Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

mit einem Nachtclub in Södertälje: jegliche Kommunikation verweigert sich mir, gleitet mir aus den Händen. Niemand will mich hören.
    (Niemand liest meine Bücher. Die Kellner im Gourmand sehen mich nicht. Ich gehöre zu einer Welt, die nur in der Phantasie existiert. Sie könnte sich auflösen.)
    Ziehe dann den kleinen Korbstuhl ans Telefon, setze mich zurecht, räuspere mich, krempele die Hemdsärmel hoch und beginne wieder von vorn 00949-3 11...
    Die glasklare Stimme, die jeden Vokal bis zur Vollendung artikuliert, in der jeder Konsonant vor Leidenschaft und Kraft, vor Menschlichkeit vibriert, ist augenblicklich da. Durch den letzten Sturm des Monats Oktober, durch Regen und Herbst, durch Schneefall und Stille des Winters, durch die Monate, die vergangen sind, durch all meine mühsame Trauerarbeit dringt er hindurch: mein Ariadnefaden.
    – Guten Abend, Frau Dozentin, hier ist der Gärtner Piatowski aus der Königin-Louisenstraße.
    – Guten Abend.
    – Es geht um Ihre Stockrosen.
    – Meine Stockrosen ?
    – Ja, sie machen mir langsam Sorgen. Sie hätten um diese Zeit schon herauskommen müssen. Es ist ja heutzutage schwer, Personal zu bekommen. Ich glaube, einer meiner jüngeren Mitarbeiter hat einen Fehler gemacht: er hat sie zu tief in die Erde gesetzt. Man muß sie umgraben, alles muß wieder aufgerissen werden. Die Genauigkeit hat sehr zu wünschen übriggelassen. Ich schicke zwölf meiner besten Leute schon morgen früh um fünf Uhr, oder nein, wenn es Sie nicht stört, möchte ich sie schon um halb vier schicken. Und dazu ein paar von meinen besten Stockrosen, zwei Wagenladungen voll, und Rosen für Ihre Wohnung, rote, rosa, gelbe mit kleinen roten Streifen, Peace, Queen Elizabeth, Frühlingszauber, Pink Cloud, Miss Liberty, Schneewittchen, Sangershausen, Poulsens Pink (ein Samenkatalog aus dem Sommer 1959 lag zufällig auf dem Tischchen neben dem Wandtelefon), Lili Marleen, nein, nicht Lili Marleen, Moulin Rouge – ich werde Ihre Wohnung mit Rosen überschwemmen, ich werde sie zu einem Meer von wunderbaren Blumen machen.
    Das tun wir immer, wenn wir bei unseren Kunden einen Fehler gemacht haben: das steht im Reglement. Paragraph drei, zweiter Absatz.
    Ich hörte ihr starkes, befreiendes Lachen.
    – Herr Piatowski, ich durchschaue Sie. Sie rufen nicht aus der Königin-Louisenstraße an, Sie rufen aus Stockholm an. Wie lieb von Ihnen, daß Sie anrufen.
    – Erinnern Sie sich an mich?
    – Natürlich erinnere ich mich an Sie. Ich denke oft an Sie. Sie habe ich wirklich gesehen . Wie geht es Ihnen eigentlich? Ich finde, Ihre Stimme klingt so merkwürdig. Ist die Verbindung schlecht? Oder sind Sie jetzt wieder unglücklich? Warum trifft man Sie nur an, wenn Sie unglücklich sind? Ich möchte gern wissen, wie Sie aussehen, wenn Sie glücklich sind. Was tun Sie da oben den ganzen Winter? Jagen Sie Bären? Oder Rentiere?
    – Ich bin mit einer Arbeit beschäftigt.
    – Was ist es denn für eine Arbeit?
    – Eine Trauerarbeit.
    – Die leisten wir alle. Sie können beruhigt sein.
    – Ja, die leisten wir alle. Können Sie mir helfen?
    – Ja. Vielleicht.
     
    Später, tief in der Nacht, las ich. 1966 schreibt Jan Håfström: »Aber ich fühle, wie die Museen allmählich entneurotisiert werden, das fest verankerte Entsetzen vor dem Unbekannten jenseits des Jura läßt nach, und all diese Garantien, Sicherheitsprojektionen können abgeschrieben werden. Es gibt einen Ozean auf allen Seiten.
    Ich muß dies wiederholen: es gibt einen Ozean auf allen Seiten. «

Der Sturm
     
    Ein Ozean auf allen Seiten?
    Aber wie erreichen wir ihn? Kam nicht in fast allen Erzählungen der Schluß allzu früh, allzu leicht? Ozean auf allen Seiten – ich sehe dich nicht, denn du bist hinter dem Wald, der Zeit, den Kontinenten verborgen. Ich glaube schon, daß es dich gibt, aber zwischen dir und mir und zwischen uns und dir ist die Geschichte, und die müssen wir leben.
    Nein. Ich fange noch einmal an. Es gibt in der Epik keine Abkürzungswege und nur eine Möglichkeit, zu erzählen, wer ich bin: es zu tun.
    Ich versuche über meine Zeit zu reden und finde nichts als meine Angst, und ich weiß nicht, was zuerst kommt: meine Angst oder die Angst der Zeit, in der ich lebe. Ich weiß nicht, was lächerlicher ist: das Narrenspiel, in dem ihr mich zappeln seht, oder das Narrenspiel, in dem ihr selbst agiert. Nun gut, dann laßt uns lächerlich sein, und laßt uns nach Herzenslust übereinander lachen! Daß es nutzlos ist, uns zu