Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Vollendung seiner Sinfonie, verbessert schrittweise ihre Instrumentation, schafft größere Klarheit in ihren Einzelheiten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Im Oktober 1827 sieht Berlioz zum ersten Mal die irische Schauspielerin Harriet Constance Smithson. Der Anlaß ist die erste Aufführung von Shakespeares Hamlet in Paris. Sie spielt die Ophelia. Sie hat einen überwältigenden Erfolg, und Berlioz ist von dieser seltsamen weiblichen Gestalt fasziniert, er weiß nicht, was er mehr liebt: die Rolle oder die Schauspielerin. Ihre Bewegungen fesseln ihn und auch die ungewöhnliche, ein ganz klein wenig scharfe Klangfarbe ihrer Stimme.
Aus diesem Augenblick heraus wird ein Kunstwerk geboren.
Laßt euch nicht verwirren von der Räuberromanze der äußeren »Handlung«, mit der die Sinfonie in den Konzertprogrammen ausgestattet ist: diese »Träume – Dasein voller Leidenschaften«, dieser »Ball«, diese »Szene auf dem Lande«, der »Gang zum Richtplatz«, »Traum eines Hexensabbats« haben euch nichts zu sagen. Diese ganze Mythologie von verratener Liebe, von einer schönen Frau, die sich allmählich in einen Dämon verwandelt, diese Racheträume könnt ihr ruhig beiseite lassen.
Berlioz kannte das Publikum seiner Zeit. Er wußte auch um seine gefährdete Situation angesichts einer feindseligen und höhnischen Kritik, die Lorbeeren ernten wollte, indem sie ihn für verrückt erklärte, er konnte genau abschätzen, welches Maß an Vulgarität von ihm gefordert wurde, damit man ihn überleben ließ: er war, kurz gesagt, wie wir alle in der Geschichte verankert, und er bezahlte, wie wir alle, bis auf Heller und Pfennig den Preis, den die Geschichte uns abverlangt.
Der eigentliche Inhalt der Sinfonie, der Gedanke, in den sie sich versenkt, ist die Verliebtheit. Und sie ist der Anfang, sie kann niemals etwas anderes sein als der Anfang.
Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf. Ich versuche, über meine Zeit zu sprechen, und finde plötzlich nichts als meine eigenen Fluchtträume und Phantasien, ich versuche, über meine Angst zu sprechen, und finde nur die privaten Tagträume, mit denen wir alle der Angst zu entgehen versuchen. Aber dann ist ja der Tagtraum uns allen gemein, dann ist er ebenso öffentlich wie der Leitartikel in Aftonbladet und die letzten Kursnotierungen an der Börse? Denn ist nicht auch die Angst eine Währung? Hat nicht auch die Flucht ihre Politik?
Ja, so ist es.
Die Lügen lassen wir gelten. Die Träume verleugnen wir. Wir fangen noch einmal an.
Johanna Becker betrachtete mich lange mit ihren großen, klugen, eigentümlich dunkelblauen Augen. Ich schälte nervös eine Birne und sprach von der glänzenden Arbeit von Professor Habermas über den Strukturwandel des Öffentlichkeitsbegriffs, die ich gerade gelesen hatte. Habermas gehörte zu ihren Lehrern und Freunden: das Thema müßte sie interessieren.
Statt auf meine (wie mir schien) klare und nicht ganz unbegabte Konversation zu hören, sah sie mich fortwährend an. Ihr schwerer Kopf war in diesem Augenblick prachtvoll: es schien mir, als trüge der breite, kräftige Hals auf seiner starken Säule die Gewalt, Klugheit, Listigkeit, Liebe, Verzweiflung und den Trotz von Jahrhunderten. Die feinen Fältchen umspielten ihren Mund. Ihr Blick hatte einen Ausdruck von – wie soll ich es am besten beschreiben – »liebevollem Durchschauen«, aber es war auch etwas Schmerzliches, etwas Gequältes darin, das ich bisher noch nie gesehen hatte.
Ich fühlte, daß ich vor diesem Blick nichts verbergen konnte.
Sie unterbrach mich mitten in einem Satz, oder ich verstummte von selbst, als hätte ich eingesehen, daß dieses Habermasspiel ebenso gut beendet werden konnte.
– Sie haben nicht viele Freunde, oder?
– Ich habe ein paar. Und ich habe meine Frau. Aber Sie haben recht, viele sind es nicht.
– Haben Sie darüber nachgedacht, woran das liegen mag?
– Ja.
– Nun, und wissen Sie es?
– Nein.
– Sie haben eine sehr starke Atmosphäre von Angst um sich. (Und in diesem Augenblick wußte ich, daß sie die Wahrheit sagte. Jahrzehnte begannen sich in mir zu regen, meine eigene, schwache piepsige Stimme aus meiner Kindheit, die ich so lange nicht mehr gehört hatte – wer erinnert sich schon an die Stimme, die er als Kind gehabt hat –, war in meiner Erinnerung deutlich zu hören, es war ein Augenblick, den zu erleben nur ganz wenigen Menschen jemals vergönnt ist, und ich, der ich immer zu verstehen geglaubt hatte, was Marcel
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