Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
spielte dieses Thema schon in Berlioz’ Leben eine eigentümliche Rolle.
Woher es stammt, weiß ja niemand, aber zum ersten Mal taucht es als kleines Flötenthema in einem Quintett auf, das der große, der ständig verkannte und verachtete, ja gehaßte Meister im Alter von zwölfeinhalb Jahren schrieb. Die ganze unaussprechliche Sehnsucht des kleinen Jungen ist in diesem Thema enthalten: das Leben hat begonnen, er ist in einem Alter, in dem der Mensch sich seinen Schatz an Formen, an Visionen zulegt. »Das Alter, in dem man so empfindlich ist, daß es scheint, als sähe und höre man fast allzuviel, so daß alles, was einem später geschieht, ein Rückzug ist«, ein langer Rückzug von dem Augenblick an, als man die Welt so tief und sehnsuchtsvoll sah, daß einem die Augen zu brennen schienen.
In Berlioz’ erstem reifen Werk, der strahlenden Ouvertüre zu der Oper »Les Francs–Juges«, machen wir erneut mit dem Thema Bekanntschaft: jetzt ist es stark geworden, jetzt steht es in A-Dur, es ist leuchtend und prachtvoll geworden. Es ist stolz, es ist freimütig, es ist unbekümmert.
Und immer noch die gleiche hartnäckige Sehnsucht. Es strebt weit über den Horizont hinaus.
Aber wenn wir dem kleinen Thema in seiner endgültigen Form begegnen, als gereiftem Gedanken in der »Symphonie Phantastique«, dann ist es in einer veränderten Situation, unter ganz anderen musikalischen Bedingungen.
Bestimmend für den Charakter dieser Sinfonie ist ein Trotz, ein dunkler, selbstsicherer Trotz. Und sie ist erfüllt von der Überzeugung, daß alles verloren ist und daß es verboten, ja wahrhaftig verboten ist, es als verloren anzusehen. Und deshalb ist der Satz, der »Gang zum Richtplatz« heißt, ein so vollkommen einzigartiges Musikstück: es ist wirklich ein Marsch zu einem Richtplatz und dennoch triumphierend, silberglänzend, stolz – sogar verächtlich.
Wie ein gewaltiger Sturm tobt dieser Trotz durch die letzten Sätze der Sinfonie: das ist gerade so ein Sturm, der die Dächer von gleisnerischen Bauwerken reißt, Würstchenbuden verrückt und die Neonreklamen von den Mauern reißt, so daß darunter die häßlichen braunen Flecken im Verputz sichtbar werden, ein Sturm, der mit den Überbleibseln des alten Jahres einen Tanz aufführt und sie zu Gespenstern und Trollen macht. Das ist ein Sturm, der durch die Welt rast und zeigt, daß allzu vieles auf Lügen gebaut war.
Und wenn nun dieses langgezogene, hartnäckige, sehnsuchtsvolle Thema, das etwas zu beweisen scheint, nein, nicht scheint, das felsenfest und für alle Zukunft von etwas überzeugt ist, wenn es nun nach seinem Besuch in dem Flötenquintett des kleinen Jungen, nach seinem kurzen, stolzen Zwischenspiel in jener Ouvertüre (er ist noch jung, noch voller Hoffnung, die Verachtung hat ihm noch nichts anhaben können) dann schließlich in der Phantastischen Sinfonie seinen Platz findet, ja, dann erscheint es wie ein Fremdkörper.
Es ist in diesem musikalischen Material nicht beheimatet, es ist ein Besucher, der sich durch lauter unbekannte, fremde Landschaften bewegt. Es drängt sich dreist zum Mittelpunkt der Handlung vor, es ist aufsässig, es gerät in Situationen, die dem Thema selbst völlig fremd sind. Es ist zugleich die Hauptperson der Erzählung und der Erzähler selbst, wie es sich da durch eine stürmische, eine unklare Erzählung seinen Weg bahnt.
Man nennt es auch »l’idée fixe«. Das ist gar nicht so dumm. Ein Begriff aus dem psychologischen Wortschatz des neunzehnten Jahrhunderts, eine Bezeichnung für Vorstellungen, die sich durch widersprüchliche Erfahrungen nicht erschüttern lassen. Ob es ein Zeichen von Krankheit oder von Gesundheit ist, wenn man an einer solchen Idee festhält: das kann nur die Geschichte selbst entscheiden. Laßt es stürmen! Haltet fest, haltet fest! Und was ihr auch tut, verleugnet euch nicht selbst!
Dann kommt früher oder später der Tag, an dem ihr erkennt, daß ihr auf allzu schwachen Grund gebaut habt, alles wird vom Sturm geschüttelt und verändert, haltet fest! Sonst kommt der Tag, an dem ihr euer Leben nur noch gedämpft und von ferne hört, wie eine Wasserader in der Bergwand: und ihr könnt sie nicht erreichen.
Erotik: Berlioz’ große Sinfonie ist aus einer hoffnungslosen, einer wahnwitzigen Verliebtheit geboren, und es ändert nichts an ihrer Hoffnungslosigkeit, daß er schließlich die bekommt, die er liebt. Er kann sie doch nicht erreichen. Und noch nach jahrelanger Ehe arbeitet er an der
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