Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
ganz einfach bremste.
Er mußte eine sehr viel höhere Geschwindigkeit gehabt haben, als man hätte meinen können, denn der Bremsvorgang, der mindestens zehn Minuten dauerte, war eine so turbulente und überhaupt schwindelerregende Angelegenheit, daß sogar Belo ein wenig bleich aussah.
Plötzlich hörten die Erschütterungen auf, und sanft glitt der Aufzug dem Erdgeschoß entgegen. Die letzte aller Etagen, dachte die Malerin G.
Draußen sah sie nur einen spärlich beleuchteten, ziemlich langen Gang, und an seinem Ende ein starkes Licht, das an den Sonnenschein eines italienischen Hochsommertags erinnerte.
Belo hielt ihr höflich die Tür auf.
Mit raschen Schritten durchquerte sie den Gang, auf das Schlimmste gefaßt. Die Wände schienen aus einem sehr groben, uralten Gestein gehauen, das kaum etwas anderes sein konnte als schwarzer Basalt.
Lieber Gott, dachte sie. Laß es schnell gehen, was auch immer es sein mag. Und zugleich durchfuhr sie der Gedanke:
– Ich werde nicht einmal sterben können.
Sie hörte die taktfesten Schritte ihrer Begleiter im Halbdunkel des Korridors hinter sich. Die Wände schienen völlig trocken zu sein. Offenbar trug Uriel immer noch ihre Tasche. Er lächelte ihr ermunternd zu, als sie sich kurz umdrehte, um sich zu vergewissern, daß sie noch da war.
Am Ende des Gangs veränderte die Luft sich merklich. Sie hätte schwören können, es sei frische Luft, wenn das nicht so ganz unmöglich gewesen wäre.
Eine solche Angst wie in diesem Augenblick hatte sie noch nie gespürt und würde sie nie wieder spüren, das wußte sie. Sie fühlte eine uralte Furcht in sich aufsteigen, kämpfte tapfer gegen die Panik an, schloß die Augen und trat aus dem Korridor hinaus, in das hinein, was ein hell erleuchteter Raum sein mußte.
Der Wind, den sie in diesem Augenblick an ihrer Stirn spürte, brachte einen unverkennbaren Duft von großen Laubwäldern mit, von Wasser, von allen Düften, die man mit einem gewöhnlichen Sommertag irgendwo in der Gegend des Lago Maggiore verbindet.
Mit einer großen Willensanstrengung öffnete sie die Augen.
Sie war auf alles gefaßt gewesen, nur darauf nicht.
Sie befand sich in einer Art Loggia, einem Säulengang, der zu einem sehr alten Palazzo, oder vielleicht zu einer Villa, gehören mußte.
Auf dem gewürfelten Marmorboden stand eine bequeme Marmorbank, und darüber war ein Mantel oder eine Art Decke in einer schönen, dunkelroten Farbe gebreitet, nachlässig hingeworfen, als hätte eine saloppe und etwas faule Person eben erst das Zimmer verlassen.
Durch die Gewölbe strömte frische Frühlingsluft. Eine Landschaft mit Seen, sanft gewellten, blaugrünen Hügeln und steil aufragenden Bergen ganz hinten am Horizont, die sich im bläulichen Dunst verloren.
Es war ein hinreißend schönes Bild. Eine leichte Brise strich über den großen See, der mehrere Kilometer entfernt sein mußte, und sie sah deutlich, wie der Wind Bahnen ins Wasser zeichnete.
Und an der Westseite des Sees gab es tatsächlich Häuser, hübsche kleine Häuser mit Ziegeldächern, nicht viele, aber es war ein richtiges kleines Dorf.
Eine Hummel summte mit einem leisen, melodischen Geräusch durch die Loggia.
– Na, was sagt man dazu, sagte Belo, der in aller Stille hinter sie getreten war und sie jetzt leicht am Ellbogen faßte.
– Es ist – es ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.
– Oh, sagte Belo.
– Es ist, ehrlich gesagt, sehr schön, sehr friedlich.
– Man darf natürlich nicht alles danach beurteilen, sagte Belo. Es gibt auch sehr häßliche Landschaften, furchtbar langweilige und eintönige. Aber hier ist es schön, ja, Sie haben wirklich recht... Hier ist es sehr schön.
Er stieß einen kurzen Seufzer aus, wie ein müder Konzernchef. Seine Eidechsenaugen waren nicht mehr Jahrhunderte, sondern Jahrtausende alt.
Flüchtig dachte die Malerin G., die wie die meisten deutschen intellektuellen Frauen eine kindliche Schwäche für etwas ältere Männer hatte, daß sie eine so ungeheuer alte Hand wie die, die gerade ihren Ellbogen berührte, vielleicht nie wieder spüren würde.
Sie fröstelte ein wenig.
Vorsichtige Rückkehr zum Hauptthema:
Die Aufrichtigkeit wird geprüft
und aufs neue verworfen
WELCHE LUFTSCHICHTEN DURCHQUERT JETZT DIE SONNE, DIE SIE GELB FÄRBEN?
Wir verlassen sie jetzt für eine Weile. Ich weiß aufrichtig gesagt nicht genau, was ich mit ihnen anfangen soll. Ich bin kein Moralist, aber wenn sich die Beziehung zwischen
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