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Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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ich in ein Beet getreten. Das Beet war natürlich von dickem, festem Schnee bedeckt, es war so hart gefroren, daß eine Panzerkolonne hätte darüberfahren können, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.
    Das Beet gehörte zur Herrgärdsschule, wo ich damals die Grundstufe besuchte, und es war streng verboten, die Beete zu betreten, auch mitten im Dezember.
    Ich geriet mit meinem Stiefel einen Dezimeter weit hinein und wurde sofort von einer Gruppe ehrgeiziger, munterer kleiner Kameraden aus einer anderen Klasse geschnappt, die mich festhielten und mich zu ihrer Klassenlehrerin schleiften. Sie packte mein Handgelenk fest mit ihrer mageren, eiskalten Hand
     
    JETZT WURDE IHR BEWUSST, DASS DAS LEISE KLOPFGERÄUSCH, DAS SIE HÖRTE, DAS SCHLAGEN EINES HERZENS WAR, DAS SICH NUR ZWEI- ODER DREIMAL IN DER MINUTE ZUSAMMENZOG. SIE KONNTE EINEN HEFTIGEN SCHAUDER NICHT UNTERDRÜCKEN, DER IHR EINE GÄNSEHAUT ÜBER DIE NACKTEN SCHULTERN JAGTE
     
    und brachte mich zu meiner Lehrerin, und diese widerlichen alten Weiber ließen doch tatsächlich nicht locker, bevor sie nicht durchgesetzt hatten, daß ich im nächsten Zeugnis ein »Ungenügend« in Betragen bekam, nur weil ich mit einem Fuß auf ein hartgefrorenes Beet getreten war. Der Schrecken war natürlich groß, als ich heimkam.
    Das Ganze ist ja eine Bagatelle. Es passierte zu einer Zeit, als in den Ländern um uns her Menschen zu Tode gepeitscht wurden, ohne das Geringste getan zu haben. Eine von diesen Lehrerinnen traf ich etwa fünfundzwanzig Jahre danach wieder, als ich ein Aquarell von ihrem Bruder kaufte, der ein ausgezeichneter Landschaftsmaler war. Es zeigte sich natürlich, daß sie eine höchst sympathische alte Dame war, mit gestärkten Manschetten und einem Tropfenfänger an der Tülle der Teekanne. Aus Höflichkeit tat sie so, als habe sie lebhafte Erinnerungen an die Zeit, als ich zur Schule ging, aber an mich erinnerte sie sich überhaupt nicht.
    Das Interessante daran liegt auf einer völlig unpersönlichen Ebene. Erstens wollte man keine Füße in den Beeten haben. Zweitens brauchte man ein paar »Ungenügend« in Betragen, damit die Statistik nicht sonderbar aussähe.
    Das interessante war, daß man mich ausgewählt hatte. Ich bin der richtige Typ, um ausgewählt zu werden.
    Mit ein bißchen Pech hätte daraus eine Karriere werden können. Dieses »Ungenügend« wäre mir durch die Volksschule gefolgt, man hätte mich als etwas schwererziehbar eingestuft. Jugendliche Banden, Motorraddiebstähle in den fünfziger Jahren, ein richtig clever geplanter Raubüberfall auf eine Tankstelle Anfang der sechziger Jahre. Knast. Ein Postraub Mitte der sechziger Jahre, als das gerade in Mode kam. Isolierhaft, schwarze Schlagzeilen im Expressen .
    Ich lese immer mit einer Art kollegialem Interesse von Bankräubern, die ganze Banken mit einem Maschinengewehr in Schach halten und mit einer Millionenbeute verschwinden oder von schwerbewaffneten Männern vor den Fernsehkameras abgeführt werden.
    Ich will gar nicht behaupten, daß ich sie besonders mag. Ich bin sehr dafür, daß Verbrechen bekämpft werden, besonders wenn sie so eiskalte und inhumane Formen annehmen wie letzten Herbst am Norrmalmstorg, wo so ein Bursche ein paar Menschen eine ganze Woche lang in einem Kellergewölbe gefangenhielt und drohte, sie in Schlingen zu erhängen, falls die Polizei versuchen sollte, ihn mit Gas einzuschläfern. Er war natürlich verrückt.
    Aber den Typ an sich verstehe ich sehr gut. Ich bin selbst so einer, den man ausgewählt hatte. Nur war ich in dem Alter viel zu dickhäutig, um diesen Wink überhaupt zu verstehen.
    Was ich damit sagen will: Es muß in diesem Alter gewesen sein, daß man den Grund zu meiner Angst, meiner Kleinbürgerlichkeit legte. Man lehrte mich, daß man es ernst meinte.
    Seitdem werde ich von zwei Ängsten beherrscht – der Angst, verrückt zu werden, und der Angst, kein Geld zu haben.
    Im Herbst 1972 in Berlin hatte ich viel Geld, mehr, als ich in meinem ganzen Leben besessen hatte, und das trug vielleicht dazu bei, daß meine Angst, verrückt zu werden, so stark in den Vordergrund trat.
    Die Angst, verrückt zu werden, ist bei mir nicht einfach eine Angst, verrückt zu werden, sondern die Angst davor, daß ich anfangen könnte, mich komisch zu benehmen .
    Ich sitze in der U-Bahn, ein Buch vor mir aufgeschlagen, um mich herum sitzen alle Berliner, die kein eigenes Auto haben, d.h. die Türken mit ihren großen, feschen anatolischen Schnurrbärten und die

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