Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
Vom Netzwerk:
es kam ihr in den Sinn, daß sie versuchen müßte, das zu malen, falls sie es je überleben sollte.
    – Hier finden sich alle Ereignisse, die nicht verwirklicht worden sind, sagte Belo im verbindlichen Ton eines Fremdenführers und beugte sich ganz nah an ihr Ohr. Hier hat Hannibal die Schlacht bei Cannae verloren. Europa ist voll von Pagoden mit kleinen, glasklaren Messingglocken, die Große Mutter Kybele wird in allen Hauptstädten Europas verehrt, mit Drachen verzierte Ballons schweben über den Wäldern, und in Schweden spricht man den dänischen Dialekt einer semitischen Sprache, die keine Möglichkeit hatte, sich zu entwickeln.
    Hier hat Thomas Münzer den Bauernkrieg in Thüringen gewonnen, die sozialen Revolutionen in Europa haben vor sechzehnhundert stattgefunden, hier blühen in einer reifen, befreiten, etwas langweiligen Welt nicht die Künste, sondern die Selbständigkeit, die Güte, die sanfte Fürsorge aller Menschen zueinander.
    In diesem Europa gibt es keine Großstädte, keine Industrien, keine Autobahnen, keine türkischen Gastarbeiter, dafür Leinenwebereien, Zeppeline, weite grüne Täler voll von reichen Dörfern, solide Universitäten, die auf nützliches Wissen ausgerichtet sind.
    – Ich sehe nichts, sagte die Malerin G. etwas enttäuscht.
    – Nein, natürlich kann man nichts sehen, sagte Belo in einem Tonfall, der sie ungeheuer diskret und doch sehr deutlich fühlen ließ, daß sie etwas Dummes gesagt hatte. Hier ist die Welt, in der 1848 der Wille des Volkes gesiegt hat, eine problematische, äußerst schwierige, aber doch eine notwendige Welt, die sich von der unnötigen Welt, in der du lebst, viel stärker unterscheidet, als du es dir je vorstellen kannst. Und hier ist das moslemische Europa. Saragossa ist die große Weltstadt, London und Paris sind Marktflecken. Hier herrschen Wohlstand und Gerechtigkeit unter dem Zepter weiser Kalifen, öffentliche Hinrichtungen finden auf den Märkten statt, aber sie betreffen nur die Missetäter. Mathematik und Philosophie, kurz gesagt, die abstrakten Wissenschaften, kommen zur Blüte. Von Caravaggio und van Eyck, von Cranach und Botticelli hat noch niemand etwas gehört, und alle öffentlichen Gebäude sind mit blauen Kacheln gepflastert.
    – Pfui Teufel, entfuhr es der Malerin G.
    – Fremd, gewiß, aber nicht viel schlechter, nicht viel unnötiger als die Zeit, in der du lebst.
    – Wie lange werden wir noch in dem geschichtslosen Zustand bleiben?
    In dem Nichts vor dem Metallgitter des Aufzugs war etwas, das sie beunruhigte. Sie hatte jede beliebige Antwort zwischen »noch zehn Sekunden« und »für immer« erwartet, aber Belo sah nur auf seine dunkle moderne Armbanduhr vom teuersten Modell, wo sich die Zahlen leuchtend auf einem pechschwarzen Zifferblatt abzeichneten und weitersprangen, und sagte sehr höflich und präzise:
    – Noch dreiundzwanzig Minuten.
    Aber auch dreiundzwanzig Minuten erschienen ihr als eine lange Zeit.
     
    Sie mußte mehr Angst gehabt haben, als sie es sich selbst einzugestehen wagte, denn plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihre eigene Hand, gewöhnlich eine kluge und lebendige Malerinnenhand, krampfhaft einen Griff im Aufzug umklammert hielt, und zwar so fest zusammengeballt, daß sie ganz weiß war.
    Sie hatte nicht mehr die geringste Lust, mit ihren Begleitern zu reden; die Sympathie, oder sagen wir besser: das wohlwollende Interesse, das besonders Belo in der vergangenen Nacht in ihr geweckt hatte, war verflogen.
    Auch die Begleiter wirkten aus irgendeinem Grund konzentriert und angespannt. Man konnte fast den Eindruck bekommen, eine Art fröhliche Ausflugsstimmung, in der sie ein paar Tage lang gelebt hatten, verflüchtige sich jetzt, und sie bemühten sich, in ihre sozusagen offiziellen oder professionellen Rollen zurückzuschlüpfen.
    Belo war immer noch sehr schön, wie er da abseits in einer Ecke des Aufzugs stand, ein Knie lässig angewinkelt, so daß die Sohle seines eleganten italienischen Schuhs gegen die Wand gestützt war, aber gab es nicht unter seiner schönen Maske einen anderen Zug, der mit jeder Minute deutlicher hervortrat? Etwas Uraltes, etwas von der jahrhundertealten Erfahrung und Müdigkeit einer Riesenschildkröte, etwas von ihren unendlich langsamen Herzschlägen?
    Weiter war sie in ihren Gedanken nicht gekommen, als der Aufzug plötzlich heftig zu vibrieren begann. Einen panischen Augenblick lang dachte sie, es würde etwas wirklich Schlimmes passieren, bevor ihr klar wurde, daß der Aufzug

Weitere Kostenlose Bücher