Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Mohammed. Nehmen wir einmal an, er sei ein epileptischer Scheich, der sich mit Schaum vor dem Mund in Krämpfen windet und mit dem Stock die Frauen zwischen den Zelten herumjagt.
Eineinhalb Jahrtausende danach ist er das nicht mehr. Eineinhalb Jahrtausende lang haben Hunderte Millionen von Menschen ihr Leben, ihren Atem, ihre besten Ideen, ihre höchsten Erwartungen, ihre sublimsten Kunstwerke in ihn hineingeliebt.
Für Millionen von Menschen ist er der Sinn der Geschichte, der Inhalt ihres Lebens. So viel Liebe, so viel guter Wille ist nicht vergeblich.
Küsse die einfache, auf ein Stück schwarzes Olivenholz gemalte Ikone (ich denke an ein Gedicht von Gunnar Ekelöf) oft genug, und sie wird heilig werden. Liebkose den schwarzen Stein, den du einmal von einer jungen Hexe in Ohrid bekommen hast, oft genug mit deiner Hand in der Tasche, und er wird zu leben beginnen.
Der Mensch selbst ist ein Gottesmacher, die Geschichte selbst erschafft die Götter, und ihre Kraft rührt von der Liebe her, die wir ihnen gegeben haben.
Wären die einfachen Bethäuser aus blutrotem Holz im nördlichen Västmanland jemals entstanden, wenn sie nicht etwas ausdrückten? Sollte die innerste Sehnsucht von tausend mageren, blaugefrorenen Kätnersfrauen sinnlos und ganz ohne Kraft gewesen sein?
Das könnt ihr mir nicht weismachen.
Der Professor irrt sich. Es gibt den Himmel ebenso wie die Hölle, weil es die Geschichte gibt, und der Versuch, sie mit ein paar flott zusammengebastelten Rundfunkvorträgen aus der Welt zu schaffen, ist weniger gescheit, als wenn Thor versucht, die Midgardschlange hochzuheben, weil er meint, sie sei eine alte Bauernkatze.
Das schwachsinnige junge Mädchen mit den leeren Augen sitzt noch genauso still im Tagesraum wie zuvor. Es regt sich in ihrem dicken Bauch.
Wie gern würde ich nicht die Hand darauflegen, um das zu spüren!
– Er sinkt sehr schnell, und wenn du nicht absolut schwindelfrei bist, rate ich dir, mich an der Hand zu halten.
Es war Belo, der das sagte. Die Malerin G. war von der ganzen Situation so verwirrt, daß sie seinen Rat befolgte. Bei der Berührung mit dieser glühendheißen Hand breitete sich eine eigentümliche Erregung in ihrem Körper aus.
Der Lärm und die stickige Luft bekamen ihr schlecht.
– Lieber Gott, laß es wenigstens schnell gehen, dachte sie mit einer Panik, wie sie einen überkommen kann, wenn die Motoren eines Flugzeugs auf Hochtouren laufen und man erkennt, daß es kein Zurück mehr gibt: Der Start muß gelingen, oder man stürzt ab.
Nicht ohne eine gewisse Dankbarkeit umklammerte sie die dargebotene Hand, die sehr heiß war, fast wie eine Dusche, die so warm aus der Leitung kommt, daß man sich daran zu verbrühen droht, und sie hatte das seltsame Gefühl, sie würde mit jedem Augenblick heißer.
– Lieber Gott, laß es wenigstens schnell gehen, dachte sie noch einmal.
Aber zunächst fuhr der Aufzug genauso langsam wie jeder gewöhnliche Lastenaufzug. Sie durchquerten die einzelnen Ebenen der riesigen U-Bahn-Baustelle. Erstaunte Arbeiter mit Schubkarren und Eisenträgern auf kleinen Wagen standen hier und da wartend am Aufzug. Geduldig sahen sie ihn vorübergleiten. Als sie die unterste Ebene passierten, stutzten die türkischen Arbeiter. Sie schienen ihnen etwas nachzurufen, aber sie konnte es über dem Lärm der Gesteinsbohrmaschinen nicht verstehen.
Und jetzt sauste der Aufzug los, innerhalb von wenigen Sekunden beschleunigte er kolossal, und die Malerin G. bekam ein Gefühl, wie es so ähnlich die Astronauten haben müssen, wenn ihre riesigen Raketen von Cap Kennedy abheben, nur mit dem Unterschied, daß es hier zweifellos abwärts ging.
Aber was heißt schon aufwärts und abwärts? Ist das Sternbild des Schwans über uns oder unter uns?
Als das scheußliclie Gefühl im Zwerchfell ein wenig nachgelassen hatte, war ihr erster Gedanke, daß sie wohl eher durch die Zeit reisten als durch den Raum. Glasklare, leere Zeit in allen Richtungen.
Nicht nur die Zeit, die gewesen ist, sondern auch die Zeit, die gewesen sein könnte, all die alternativen Zeiten.
– Wir befinden uns jetzt in dem, was wir den geschichtslosen Zustand zu nennen pflegen, sagte Belo mit leiser, kultivierter Stimme und ließ ihre Hand los.
Ihr wurde bewußt, daß der Lärm aufgehört hatte. Rings um sie her herrschte tiefe Stille. Draußen vor dem Aufzug war nichts zu sehen, keine Dunkelheit, kein blauer Himmel, buchstäblich nichts.
Es war ein merkwürdiges Erlebnis, und
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