Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
herumzutragen sind. Die indische Regierung unternimmt nicht die geringste Anstrengung, um etwas daran zu ändern.
Die jüngsten Untersuchungen haben gezeigt, daß die Lage der arbeitenden Klassen in England im großen und ganzen noch die gleiche ist, wie sie Engels beschrieben hat. In den Arbeitervierteln von Manchester und Leeds wimmelt es noch genauso von Ratten wie um 1860. Gibt es einen einzigen Punkt auf der Welt, wo man einen sozialen Fortschritt nachweisen könnte, der nicht schon am Ende des 19. Jahrhunderts verwirklicht worden wäre?
Die Freiheitsideen, die die großen Parteien in England und Preußen um 1890 vorbringen konnten, würde heute keine politische Partei mehr ernstlich zu vertreten wagen: Höchstens ein paar langhaarige Extremisten wagen auf Flugblättern zu behaupten, man habe das Recht, seine Meinung unbehelligt von der polizeilichen Registrierung zu vertreten.
Technischer Fortschritt! Pah! Ich sage mit John Stuart Mill: Gibt es ein einziges Beispiel dafür, daß eine Maschine auch nur einem einzigen Menschen das Leben erleichtert hätte?
Ich beginne mich wie der Erdkundelehrer Janeberg zu fühlen. Die Pest ist überall um uns, aber nur mich befällt sie.
Aus dem Sudan kommen Bilder von verhungerten Kälbern. Sie liegen auf dem ausgetrockneten, rissigen Lehm, die langen, faltigen Hälse in rührenden Stellungen verrenkt.
Die kleine Clique von Planungsexperten, Gastreferenten und Schriftstellern, die zu Schriftstellerkongressen unterwegs sind, fliegt in ihren Jumbojets herum, steigt in ihren mit Klimaanlagen versehenen Hiltonhotels ab und sitzt in ihren Konferenzen. Sie treffen immerzu Bekannte auf den Flugplätzen, und das läßt sie glauben, die Welt sei winzig klein, was sie zweifellos auch ist, wenn man mit »Welt« einen kleinen Gesellschaftskreis von einigen zehntausend Personen meint. Und wenn sie da in ihren Kongreßhallen und in ihren Hiltonhotels sitzen, begreifen sie nicht, daß all das nur eine Kulisse ist, daß hinter dieser Kulisse die Welt vermodert, daß es noch dieselbe chaotische, brutale, zerfallende Welt ist wie am Ende des Römischen Reiches, nur daß sie tausendmal größer, tausendmal brutaler ist und daß in Wirklichkeit die Dunkelheit naht, schnell, schnell wie eine Flutwelle.
LOVE ME, I AM A LIBERAL
Neulich habe ich einen sympathischen deutschen Professor getroffen, einen Philosophieprofessor aus Heidelberg, netter Bursche, sehr gebildet, konnte Hegel praktisch auswendig.
Er wollte im November nach Calcutta. Es ist ja nichts Besonderes dabei, daß jemand nach Calcutta fährt, ich selbst fahre im März nach Australien, er wollte also im November nach Calcutta, in diese Stadt, wo der schmutzigbraune Fluß voller halbverbrannter, von Hunden und Ratten angenagter Leichen an den Kais entlangfließt, Calcutta, wo Bettler wie Blumenkohl gezüchtet werden, damit sie das richtige Format bekommen, um von ihren Arbeitgebern bequem herumgetragen werden zu können... dieses Calcutta also wollte er besuchen, um Vorlesungen über die deutsche idealistische Philosophie zu halten.
LOVE ME, I AM A LIBERAL
Ich kritisiere ihn nicht, wohlgemerkt. Ich überlege nur. Irgend etwas in dieser Zeit bringt mich immer mehr zu der Überzeugung, daß wir uns in einem Irrenhaus befinden. Ich bin viel zu nüchtern, zu phantasielos, berechnend und klug, um mich in der geschlossenen Abteilung eines Irrenhauses richtig wohl zu fühlen. Lieber schlafe ich einen vielhundertjährigen Schlaf in einem Sarkophag, eingehüllt in Decken aus Spinnweben und Kalkstaub, tote Spinnen unter den Augenlidern, als daß ich mich in dieses kreischende, schreiende, seufzende, schreckliche Irrenhaus hineinziehen lasse.
IHR HÄTTET MICH NICHT WECKEN SOLLEN. ES WAR GEMEIN VON EUCH, MICH ZU WECKEN
Ungefähr an dieser Stelle kommt dieses Trompetensignal aus der Leonora III ins Spiel. Die Stimme der Vernunft, ein Signal, das offenbar von außerhalb des Gefängnisses kommt (aber nicht von Gott, sondern von der Vernunft), ein Signal, das sagt: jetzt reicht’s aber, Leute, Schluß jetzt mit diesen Scherzen, jetzt müßt ihr euch verdammt noch mal zusammennehmen, so kann es ja nicht weitergehen. Seht doch endlich mal ein, zum Teufel, was ihr verschwendet, Jungs, was aus euch hätte werden können, wenn ihr es wirklich gewollt hättet.
An der alten Schleuse in Färmansbo hört man das Wasser überall. Es ist ein uralter Kanal, schon Anfang des 18. Jahrhunderts gebaut, zerstört und zerfallen,
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