Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
roten Halstüchern. Der Rundfunk hatte in seinen Nachmittagsnachrichten eine Meldung über die spannende Wendung gebracht, die die siebente Etappe genommen hatte, als ein junger Pole, Withold Gork vom Fahrradclub ANDROMEDA aus Kattowitz, ganz überraschend die Führung übernahm, und mehrere Kommentatoren hatten prophezeit, daß nun wieder eine große Zeit für Polen anbrechen würde – auf dem Gebiet des Radsports. Die Rundfunkkommentatoren hatten sogar ein wenig über Gorks Arbeitsplatz in einer Maschinenfabrik in Kattowitz berichten können, und das Fernsehen zeigte Gorks Kollegen an ihren Drehbänken, wo sie begeistert im Radio die Erfolge ihres Arbeitskameraden verfolgten. Dadurch waren noch besonders viele Leute zur Rennstrecke geströmt, und die Verkehrspolizei war gerade dabei, die Zuschauer davon abzuhalten, zu weit auf die Straße hinauszugehen.
Am Ziel stand schon ein Mädchen in Volkstracht mit dem Siegeskranz bereit, dunkel, mit märchenhaften braunen Augen, und die aufgestellten Lautsprecher dröhnten plötzlich los und berichteten mit schrecklichem, metallischem Echo von dem phantastischen Ausbruch, den Withold Gork sechs Kilometer vor dem Ziel gemacht hatte. Es war ganz unglaublich, er lag schon einen Kilometer vor den anderen.
Das Fernsehen zeigte dramatische Silhouettenbilder von dem Wunder aus Kattowitz, noch immer triefend naß vom Regen, jetzt aber im Sonnenschein, bei einem phantastischen Endspurt. Würde er durchhalten? Es sah ganz so aus, er schien nicht im geringsten erschöpft zu sein, vielmehr wuchs der Abstand zwischen Gork und der Spitzengruppe jetzt überraschend schnell.
Eine neue große Epoche in der Geschichte des polnischen Radsports stand offenbar kurz bevor.
Gork steigerte immer noch das Tempo. Schon jetzt war klar, daß er die beste Etappenzeit in der Geschichte des Friedensrennens machen würde, wenn er durchhielt.
Bei jeder neuen Meldung brandete am Ziel unterhalb des Schloßbergs von Krakau der Jubel auf, und den einsamen Helden Withold Gork, der sich die langen Steigungen nach Krakau hinaufkämpfte, umbrauste ein Frühlingswind mit immer größerer Kraft, die Sonne schien immer wärmer, und begann sich nicht der Frühling trotz allem einen Weg durch die rasch aufreißende Wolkendecke zu bahnen?
Jetzt war es nur noch ein Kilometer bis zum Ziel, unten von der Landstraße her hörte man schon den frenetischen Jubel der Zuschauermassen anschwellen.
Withold Gork aus Kattowitz war dabei, einen Rekord bei der siebenten Etappe des Friedensrennens aufzustellen.
Was nun folgte, ist als einer der großen Skandale in der Geschichte des edlen polnischen Radsports bekannt geworden.
Die siebente Etappe des Friedensrennens im Mai 1973 in Krakau gewann bekanntlich der mehrfache Sieger Ferdinand Forsche aus der DDR, der in dieser Etappe einen neuen Streckenrekord aufstellte.
Wie einer Reihe von Leuten bekannt ist, kam es am Ziel zu unangenehmen Demonstrationen gegen Forsche, die später in einem ausführlichen, streng geheimen Briefwechsel zwischen den Außen- und Sportministerien der jeweiligen Volksrepubliken behandelt wurden, um mit der Zeit als böswillige Gerüchte zurückgewiesen zu werden.
Fest steht jedoch, daß Forsche nicht als Etappensieger erwartet wurde und daß sein Erscheinen am Ziel eine gewisse Verwirrung auslöste, wobei Forsche offenbar so unglücklich über sein Fahrrad stolperte, daß die Lenkstange ihn unterm rechten Auge traf, was aber nur zu einem kräftigen Veilchen führte.
Polens Favorit, der junge Withold Gork, mußte leider wegen einer überraschenden Sehnenzerrung wenige hundert Meter vor dem Ziel aufgeben, wie alle Zeitungsleser wissen.
Wenige Tage, nachdem das Friedensrennen in Krakau gelaufen war, verbreitete sich ein sonderbares Gerücht in der Stadt: Withold Gork habe sich in Wirklichkeit auf der Schlußstrecke verfahren und sei, statt zum Ziel, in einem »Wahnsinnstempo« den Hügel hinaufgespurtet. Dieses Gerücht konnte eindeutig dementiert werden. Und zwar hat das Gork persönlich getan, noch am selben Tag, in einem Interview mit der Abendzeitung:
ES WAR NAHE DRAN, ABER LEIDER HAT ES NICHT GEKLAPPT, SAGT GORK
Selbstverständlich kann niemand »in einem Wahnsinnstempo« den Schloßberg von Krakau hinauffahren, und am allerwenigsten würde das jemand tun, der dabei die Chance verpaßte, eine neue Epoche in der Geschichte des polnischen Radsports einzuleiten.
Aber viele Fernsehzuschauer werden das Bild dieses
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