Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Kaufhaus auf der anderen Seite des Marktplatzes hatte bis acht Uhr offen, die Parkplätze waren voll von schimpfenden Autofahrern, die Hausfrauen schleppten mit müden Gesichtern (Gesichtern?) ihre spätindustriellen Konsumwaren. In Asien gingen die Kriege weiter.
Zottige västmanländische Bauern mit holzschnittartigen Gesichtern und schweren blaugefrorenen Nasen verkürzten Weihnachtsbäume mit ihren kurzen scharfen Äxten. Auf der Torggatan schepperten Lautsprecher zwischen den Hauswänden. Der Prediger der Heilsarmee und der unsichere Gymnasiast von der FNL versuchten einander zu übertönen. Sammelbüchsen für Vietnam und für die Heilsarmee appellierten unter den wachsamen Augen der Polizeiwachtmeister. Der große Weihnachtsbaum des Stadthotels leuchtete mit hundert Glühbirnen.
Und eine eigentümliche Liebe bahnte sich ihren Weg durch meine Trauer. Mich verfolgte das laute, gedehnte Thema aus der »Symphonie Phantastique«, und da war Trotz, und es war dunkel, und das Thema war dennoch da, und ich wußte noch nicht, was es bedeutete.
Die Schwalben schliefen auf dem Grund der gefrorenen Seen. Und am Morgen des Neujahrstages, am 1. Januar 1970, nach einem mächtigen Schneefall, der alles zudeckte, flogen sie aus den Bäumen auf, sammelten sich in immer größeren Scharen und umkreisten die Türme und Kirchturmspitzen der Stadt, flogen hinaus über den gefrorenen Mälarsee und wieder zurück über die Stadt.
Und an den Fensterrahmen gelehnt, meinte ich sie dahinschweben zu sehen wie einen ruhelosen, krächzenden Schwarm von aufgestörten Geistern.
II
Flußaufwärts
Nun sehe ich das Leben breiter werden
denn ich spüre des Lebens Grausamkeit
Lindegren
Über das Reden
Die Frankegatan mündet in den Köpingsvägen. Kiesbestreute Steigung und rechts ein grüner Kiosk, der im Sommer eine Art Sonnendach hat.
Im Westen, parallel zur Frankegatan, ebenso kiesig und holprig, verläuft der Djuphamnsvägan. Parallel dazu im Osten verläuft die Pistolgatan. Da wir von den westlichen Stadtteilen reden (in Västerås 1939), liegt die Pistolgatan auf dieselbe Weise parallel zur Frankegatan im Osten.
Osten und Westen sind, könnte man sagen, neutrale Richtungen: im Westen gibt es eine Birke, die man von einem Hallentisch an einem Fenster aus sieht, im Osten sieht man gar nichts, da es in dieser Richtung kein Fenster gibt.
Der Süden ist freundlich, der Süden hat nichts Bedrohliches. Im Süden liegt der Mälarsee (aber den kann man nicht sehen), im Süden hat der Himmel immer eine hellere Farbe.
Der Norden ist feindlich, fremd, bedrohlich. Von Norden kommen alle Gefahren, morgens die Scharen von Fahrradfahrern auf dem Weg nach Norden, abends in südlicher Richtung zurück auf der Straße, die vom Köpingsvägen abgeht.
(Jetzt, im Jahre 1939, ist die Luft noch klar und rein. Im Frühling vermischt sich der Geruch von verbranntem Laub in den Gärten mit der milden Feuchtigkeit, die vom Mälarsee heraufdringt. Was es an Autos gibt, ist kaum der Rede wert.)
Der Köpingsvägen führt in östlicher Richtung in die Stadt hinein: linkerhand ein Postamt, ein Kolonialwarenladen mit scheußlichen eulenartigen Augen, die für irgend etwas Reklame machen, rechterhand eine Tennishalle mit weißgekleideten Tennisspielern (sie bewegen sich undeutlich), dann links eine Glasschleiferei, mit einer Werkstatt im Hof, wo Riemen unter der Decke entlanglaufen, rechts wieder ein Lebensmittelgeschäft, und jetzt, bevor die Straße einen Berg hinunterführt (dreihundert Meter weiter westlich liegt die Grenze der bekannten Welt) nach rechts und in die Floragatan hinein, und nach vielen weiteren Schritten auf der rechten Straßenseite (da es Häuser nur auf der rechten Straßenseite gibt; links ist ein Park) Großmutter Emmas Haus.
(Einunddreißig Jahre später, in einer westasiatischen Wüste, wenn ich ihre Haartracht mit der der wunderbaren Sephardischen vergleiche, die am Cafétisch mir gegenüber sitzt, beide haben dunkles Haar, hinter die Ohren zurückgestrichen, und eine Art Spange, werde ich entdecken, daß ich sie geliebt habe.) Bei ihr zu Hause redet man: sie ist das Zentrum des Redens. Aber schon einen Kilometer weiter westlich, schon auf der Pistolgatan, beginnt das Reden .
Das Reden ist weiblich. Das Reden ist Weichheit, Wärme, Leben. Das Reden ist Mütterlichkeit, Wärme, Wiege.
Hier redet man nicht, aber schon dort drüben beginnt es. Es wird geredet. An der Wand hängt feierlich das schwarze
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