Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Proust mit der »wiedergefundenen Zeit« meinte, erkannte plötzlich, daß ich es nicht verstanden hatte, bis jetzt, bis zu diesem Augenblick, und wie wirklich, wie vollkommen greifbar die Vergangenheit sein kann, wie Brot oder Erde zwischen den Fingern oder wie Steine, die auf einem Kiesweg knirschen, oder ein Hund, der am Weg bellt. Und der einzige Unterschied zwischen meinem Augenblick und Prousts, wenn ihr mir diesen vielleicht allzu kühnen, allzu anspruchsvollen Vergleich gestattet, war, daß es sich hier nicht um ein in Lindenblütentee getauchtes Madeleineküchlein handelte, sondern um die tiefblauen, gequälten und durchdringenden Augen einer preußischen Philosophiedozentin.)
– Haben Sie auch Angst vor mir?
(Und sie antwortete, ja, sie antwortete, und als sie antwortete, wußte ich, daß die sechziger Jahre zu Ende waren, daß die Revolutionen einmal gelingen würden, daß Lüge lange währen kann, daß aber die Wahrheit länger währt, daß die Verzweiflung ein Ende haben muß, daß wir weniger über uns selbst wissen, als wir glauben, daß wir aber einmal mehr wissen werden, daß die Bomberflugzeuge, die mit ihrer Last von Kernwaffen und Tod Tag und Nacht und von einem Horizont zum anderen fliegen, eines Tages vielleicht nicht mehr fliegen werden und daß die Gerechtigkeit in Reichweite ist, wenn sie sich uns vielleicht auch noch entzieht, kurz gesagt, ich wußte in diesem Augenblick, daß die Welt nicht tot und versteinert ist, und wußte, daß alles, was ich bislang geschrieben hatte, mit einer halben und irgendwie verschwommenen Erkenntnis meiner selbst geschrieben worden war, und diese Einladung hatte eine solche Macht, daß ich sofort bereit war, auch dies als Tatsache zu akzeptieren, und über Berlins breiten Straßen und Dächern lag ein helles Sonnenlicht, das den blauen Dunst des Kohlenrauchs durchdrang, und es war genau ein Uhr mittags, und schwer und gewaltig und qualvoll lag der Herbst vor mir, und sie antwortete)
– Nein, überhaupt nicht. Sie sind sehr angenehm. Aber ich spüre Ihre Angst, und die ist gewaltig.
Sie müssen schon lange damit gelebt haben. Die Angst, die man immer mit sich herumträgt, spürt man selbst nicht. Vielleicht erscheint sie Ihnen als Teil des natürlichen Zustandes der Welt?
– Aber ist nicht die Angst der natürliche Zustand der Welt?
– Nein. Sie beherrscht die Welt, aber sie ist nicht notwendig.
Bei Marx hat jede Klasse ihre Maske, ihre Charaktermaske, der Aristokrat hat seine, der Kapitalist eine andere, und, wohlgemerkt, auch der unterdrückte Proletarier hat seine. Diese Masken sind wirklich, sie sind Gesichter, sie sind notwendig, aber nur so lange, wie die Ursachen dieser Notwendigkeit fortbestehen. Die Angst, die Sie fühlen, und die so ansteckend wirkt, daß man sie schon spüren kann, wenn Sie sich nähern und eine Treppe heraufkommen, diese Angst ist die Ihre und ist zugleich nicht die Ihre.
(Und während ich hilflos meinen Kopf in ihrem Schoß barg, fuhr sie fort:)
– Ich wünschte um Ihrer selbst willen, daß Sie eine Reise in Ihr eigenes Inferno unternehmen könnten, denn es ist da, ich weiß, daß es da ist. Ich wünschte, ich könnte ihnen den Weg zeigen.
– Wollen Sie mein Vergilius sein?
(Mit ihrer sommersprossigen Hand strich sie mir langsam übers Haar. Ich hörte das dumpfe Tropfen des Wasserhahns, wie eine Trommel, wie eine näher rückende Armee, in der Küche. Der Sonnenstreifen auf dem Boden hatte sich ein paar Zentimeter weiterbewegt und ließ ihr rotes Haar wie Gold aufleuchten. Sie war keineswegs schön. Wären nicht ihre Augen gewesen, dann hätten ihr schwerer Kopf und der kurze Hals einen fast grotesk anmutenden Eindruck machen können.)
(Hatte sie einen Mann? Augenscheinlich wohnte sie allein in der Wohnung. Eine Frau? Es war mir gleichgültig.)
(Und sie antwortete langsam und freundlich, als hätten wir einander ein Leben lang gekannt, ja, als wäre sie meine physische Mutter:)
– Ich will es versuchen.
Ihr wißt, wie der Herbst verging.
Ihr wißt, wie der Winter kam. Ihr wißt, wie die Trauer begann. Nun fiel der Frost über das Land, es ging auf Weihnachten zu. Die Dunkelheit verdichtete sich, die Tage wurden langsamer, wurden träge, der Schlaf saß mit jedem Morgen tiefer im Auge.
In der Turmspitze von Tessins mächtiger Kirche wurden die Turmlichter angezündet, die immer an Weihnachten angezündet werden, in den kältestarren Bäumen des Friedhofs flogen die frierenden Dohlen hin und her.
Das
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