Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Individualität, die Intelligenz darstellt.
Es gibt enorm persönliche Völker. Es gibt faule und fleißige, aggressive und sanfte Bienenvölker. Es gibt sogar leichtsinnige und unsolide, und weiß der Teufel, ob es nicht Völker gibt, die Sinn für Humor haben, und andere, denen er fehlt.
Zum Beispiel das Schwarmfieber! Das ist genau wie bei einem nervösen, launischen, ungeduldigen Menschen. Schlechter Liebhaber; keine Geduld.
Und die einzelne Biene ebenso unpersönlich wie ein Rädchen oder eine Schraube in einem Uhrwerk.
(Das gelbe Buch I:3)
Im August, als die Kinder hier waren, wollten sie mit mir Federball spielen. Für Kinder aus einer geschiedenen Ehe haben sie, glaube ich, wirklich sehr angenehme Sommerferien gehabt. Sie waren ja mehrmals hier. Im Juni und im August.
Bei dieser Gelegenheit jedenfalls, als wir Federball spielten, fühlte es sich ganz genauso an.
Aber damals war ich ganz sicher, daß es ein Hexenschuß war, und vergaß die ganze Sache wieder. Ich glaubte natürlich, daß ich einen Rückenmuskel gezerrt hätte. Ich mußte sofort mit dem Spiel aufhören.
Aber gibt es einen Hexenschuß, der so verdammt weh tut, daß man davon einen Blutgeschmack im Mund kriegt?
(Das gelbe Buch I:4)
Ist das schwedische Volk geduldiger als andere Völker? Ich weiß nicht viel darüber. Ich habe in meinem Leben das Reisen versäumt. Zwei Radtouren durch Dänemark Anfang der fünfziger Jahre, ein Tischtennisturnier in Kiel und mehrere Wanderungen über die Grenze nach Norwegen, ganz oben beim Femundsee über Orsa und Idre, das ist ja nicht gerade viel. Ich neige dazu, die Welt außerhalb Schwedens als etwas Literarisches zu betrachten, etwas, das in Büchern und Zeitschriften vorkommt.
Sehr große Entfernungen erschrecken mich. Paris ist etwas, das in den Tagebüchern der Brüder Goncourt existiert, das modernste London ist das der frühen Romane von Aldous Huxley.
Wenn ich wirklich an diese Orte käme, würde ich mich vermutlich nicht zurechtfinden. Ich würde sie als belanglos empfinden. In der Länszeitung sehe ich gerade, daß es inzwischen Wolkenkratzer in Paris gibt.
In meinem System herrschen verschiedene Zeiten an verschiedenen Orten. In Paris beispielsweise hat sich der Mörtelstaub der Kommune noch kaum gelegt. Was herrscht hier für eine Zeit? Die Jetztzeit.
Ob also das schwedische Volk geduldiger ist als andere Völker? Vorgestern das Wartezimmer der Röntgenstation im Bezirkskrankenhaus von Västerås. Starker Geruch von Wollsachen, nassen Wollsachen. Alles voll mit Leuten, auf Stühlen, auf Bänken, überall. Ein Junge mit einem fürchterlichen Bluterguß auf der ganzen rechten Gesichtshälfte. Er war am Abend davor mit dem Moped verunglückt und hatte Schmerzen. Ein alter Mann aus Kolbäck, der mit dem Morgenbus gekommen war. Er hoffte sehr, daß er den letzten Bus am Abend noch erreichen würde. »Das geht langsam hier.« Er war in derselben Woche schon einmal dagewesen. Alle hatten einen Nummernzettel in der Hand. Die Mysterien der Reihenfolge; manchmal holt die Krankenschwester zwei oder drei Patienten auf einmal herein, manchmal nur einen einzigen. Manchmal hört der gesamte Verkehr für eine Stunde auf. Und wie alle jedesmal aufschauen , wenn die Schwester hereinkommt.
Wie ein mechanisches Glockenspiel, bei dem sich die Figuren einmal in der Stunde bewegen; eine Tür geht auf, jemand kommt heraus, jemand geht hinein. Ein stockbesoffener Kerl mit massenhaft Pflastern auf der Stirn, unter den Augen, auf dem Kinn, wird von zwei Polizisten hereingeführt. Er kommt gleich dran.
Von den sechzig oder siebzig Menschen im Raum müssen die meisten mehr oder weniger starke Schmerzen haben. Bei einigen ist es an der Art zu sehen, wie sie sitzen, an der Art, wie sie aufstehen und unruhig im Zimmer auf und ab laufen.
Aber kaum jemand redet darüber, sie sagen noch nicht einmal, daß ihnen etwas weh tut (und dieses »weh tun« kann alles bedeuten, in einem Spektrum von leichten Beschwerden bis zu stechenden Schmerzen). Sie reden vielmehr über schlechte Busverbindungen, über Schienenbusse, über Besuche und Gegenbesuche. Es scheint so, als lebten manche nur dafür, hin und wieder ins Krankenhaus zu gehen. Sie fühlen sich dort gar nicht so unwohl. Ihre Krankheit gibt ihnen eine Identität. Das gilt für einige der Ältesten und Anspruchslosesten.
Durch ihre Krankheit wecken sie ein Interesse, das ihnen niemand je in gesundem Zustand entgegengebracht hat.
Irgendwas an
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