Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
Dämonen, das die Besatzungstruppen längst verlassen haben.
Als das Licht ein wenig höher gestiegen war und sich nun frei auf der gegenüberliegenden, westlichen Wand des Plateaus entfalten konnte, verwandelte es die Säulen, die einsamen, aufragenden Säulen dieser Sandsteinformationen in ein Orgelwerk, in die Fassade einer Barockorgel, in eine Lichtorgel.
Zu der klaren kleinen Stimme des Kaktuszaunkönigs im Dickicht der stämmigen Kakteen neben dem einfachen Reitweg gesellte sich nun ein Chor von seltsamen Vogelstimmen: Baumläufer, Inkatauben und das höhnische Krächzen großer schwarzer Krähen. Und ohne einen Laut schwebten zwei riesige Truthahngeier über der Schlucht. Zweihundert Meter über uns hingen sie reglos in der Morgenbrise.
John Weinstock, Professor für Altisländisch an der Universität von Austin und begeisterter Marathonläufer, saß schon in zerschlissenen Shorts und einem Netzhemd am Spirituskocher.
Er reichte mir einen Blechnapf mit schwarzem, bitterem Kaffee.
Der eigentliche Morgen war schon vorüber. In wenigen Stunden würden wir dreißig, vielleicht sogar fünfunddreißig Grad in der Schlucht haben. Die mexikanische Hochebene begann sich langsam aus dem Sonnendunst zu schälen, hinter der einzigen Lücke in den Berggipfeln, die uns den Blick darauf freigab – das »Fenster«.
Dort drüben auf der mexikanischen Seite mußte es schon sehr heiß sein. Die Ebene lag mehrere tausend Meter unter uns. Es war ein Morgen im Oktober 1974. Ich trank den bitteren, heißen Kaffee. Wie ein dünner Draht aus weißleuchtendem Silber schimmerte der Rio Grande tief unten durch den Sonnenrauch.
Ich dachte:
Wie sonderbar. Ich spüre nicht mehr viel von einem Seelenleben. In mir ist alles ganz klar und ruhig und leer. Da sind die Vogelstimmen und das flirrende rote Licht an diesem Orgelfelsen, da ist der bittere, kräftige Geschmack des reinen, ungezuckerten Kaffees. Aber keine Vorwürfe, keine Erinnerungen, keine Unruhe. Ich hänge in einem Gyroskop. Ich bin leer, rein und klar.
Vielleicht ist es mir am Ende doch noch gelungen.
Vielleicht habe ich es wegerzählt .
– Would you like some more coffee?
Der Wind ist jetzt abgeflaut. Der Sturm ist vorüber. Es weht nicht mehr. Oder vielleicht habe ich es auch gelernt, mich mit der Geschwindigkeit des Windes zu bewegen, und spüre ihn daher nicht mehr.
Ihr freundlichen Leser, ihr sonderbaren Leser. Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf. Wir beginnen mit der fünften und letzten der fünf Erzählungen. Wie schlaue alte Stöberhunde bei einer Elchjagd in Västmanland – übrigens ist im Oktober in Västmanland Saison für die Elchjagd – nehmen wir die Spur dort wieder auf, wo wir sie verlassen haben, und folgen ihr bis zur blutigen Beute.
Wir fangen noch einmal an. Es ist Vorfrühling 1975, es beginnt mitten in der Schneeschmelze. Ort der Handlung ist das nördliche Västmanland.
Der frühere Volksschullehrer von Väster Våla, er heißt Lars Lennart Westin, wurde aber oft »Wiesel« genannt, ist vorzeitig pensioniert worden, als man die Schule geschlossen hat, die örtliche Volksschule in Ennora am nördlichen Ufer des Sees. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt mit allen möglichen Dingen, vor allem mit dem Verkauf des Honigs, den seine Bienenzucht erbringt. Sie ist zeitweise ganz beachtlich gewesen. Seit seiner Scheidung wohnt er in einer Kate auf der Landzunge in Höhe der Dörfer Vretarna und Bodarna, aber natürlich an der Ostseite des Sees. Er hat einen kleinen Garten, einen Kartoffelacker, einen Hund. Manchmal kommen Verwandte ihn besuchen. Er hat ein Telefon, einen Fernseher und ein Abonnement auf die Vestmanlands Läns Tidningen . Seit er sich scheiden ließ, hat er keine nennenswerten Beziehungen zu Frauen gehabt.
Das »Wiesel« ist noch nicht besonders alt. Er wurde am 17. Mai 1936 geboren. Aber er sieht schon viel älter aus als Vierzig, verbraucht, mit schütteren Haaren, dünn. Er trägt eine von diesen Brillen mit schmalem Stahlrand, die den Eindruck der Magerkeit verstärken. Er lebt unter äußerst bescheidenen finanziellen Bedingungen, aber das ist nicht sein Problem.
Was nun folgt, sind seine hinterlassenen Aufzeichnungen. Hinterlassen: denn in diesem Frühjahr 1975 findet er mitten in der Schneeschmelze heraus, daß er den Herbst nicht mehr erleben wird. Er hat ein tödliches Krebsgeschwür, das mit der Zeit, viel zu spät, in der Milz lokalisiert worden ist, mit starken Metastasen im umgebenden
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