Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
Vom Netzwerk:
hatte, die direkt hinter der Scheune auf Bruslings Wiese herumschnupperte, war ich zu folgender Überlegung gekommen:
    Entweder steht in diesem Brief, daß es nichts Schlimmes ist. Oder es steht darin, daß ich Krebs habe und sterben werde. Und natürlich steht höchstwahrscheinlich darin, daß ich welchen habe.
    Das Klügste für mich wäre, ihn nicht aufzumachen, denn wenn ich ihn nicht aufmache, wird es immer noch eine Art Hoffnung geben.
    Und durch diese Hoffnung bekomme ich einen Bewegungsspielraum. Einen kleinen, gewiß, denn es wird deshalb nicht aufhören weh zu tun, aber es wird ein ganz allgemeiner Schmerz sein, er wird mich an nichts Besonderes erinnern, ich werde ihn in mein Leben integrieren können, warum sollte ich das nicht schaffen? Ich habe mich ja schon mit so vielen anderen Dingen abfinden können.
    Als der Brief schließlich eintraf, machte ich mit dem Hund einen Spaziergang um die ganze Landzunge herum, und als ich zurückkam, hatte ich einen Entschluß gefaßt: Ich werde ihn niemals aufmachen.
    Er stand neben dem Essensgedeck auf dem geblümten Tischtuch in der Küche, die Vögel pickten draußen auf dem Vogelbrett wie zuvor, es hatte inzwischen noch mehr getaut, es tropfte tatsächlich schon von der Dachrinne. Ein brauner Umschlag mit einem Fenster, in der linken oberen Ecke stand: Bezirkskrankenhaus Västerås, Zentrallaboratorium. Ich befühlte ihn. Es war nur ein einziges Blatt darin, offenbar in der Mitte gefaltet. Ich hielt ihn gegen das Fenster. Man konnte nicht hindurchsehen.
    Wenn ich ihn aufmache, dachte ich, wie wird er mich dann verändern? Wenn darin steht, daß ich nur noch einige Monate zu leben habe, werde ich dann wie versteinert sein? Gelähmt? Werde ich mich in irgendein Krankenhaus legen müssen? Wahrscheinlich, und die letzten Monate in einem Bett verbringen, mit immer stärkeren Schmerzen, immer magerer und kraftloser werden und nicht mehr Herr meiner eigenen Lage sein.
    Aber wenn ich ihn jetzt aufmache, und es steht darin, die Laboruntersuchung habe gezeigt, daß die entnommenen Proben von gutartigen Geschwulsten stammen? Daß es ein Magengeschwür ist, ein Gallenstein, und mit einer Operation und der entsprechenden Diät behandelt werden muß und daß es lebensgefährlich ist, mit einem Gallenstein herumzulaufen, ohne sich von einem Arzt behandeln zu lassen?
    Wenn es mir nun immer schlechtergeht, falls ich diesen Brief nicht aufmache? Vielleicht kommt mit der Zeit ein neuer Brief, aber dann wird es wahrscheinlich schon viel zu spät sein.
    Als der Brief kam, machte ich ihn nicht auf, sondern ging zunächst lange mit dem Hund spazieren.
    Als ich wieder nach Hause kam, hatte ich mit dem Gedanken zu spielen begonnen, ihn überhaupt nicht aufzumachen.
    Irgendwie spielte ich ein wenig zu lange mit diesem Gedanken, nur eine Zehntelsekunde zu lang, aber das genügte.
    Wenn dieser Brief meinen Tod enthält, dann verweigere ich ihn.
    Mit dem Tod soll man sich nicht einlassen. Ich hatte das Glück, das schon ziemlich früh zu lernen, es ist eine Regel, die mir in meinem ganzen Leben schon viel Nutzen gebracht hat.
     
    Nach Wilhelm Wundt, der zu seiner Zeit einen ganz beachtlichen Ruf als Psychologe hatte, wie ich dem Nordischen Konversationslexikon entnehmen kann, gibt es drei Arten von Schmerzempfindungen. Es gibt dumpfe, stechende und brennende Schmerzen.
    Im Unterschied zu den Bezeichnungen für den Farbensinn hat die Sprache keine speziellen Wörter entwickelt, um diese verschiedenen Empfindungen zu kennzeichnen. Sie haben keine eigenen Namen.
    Vielleicht liegt das daran, daß zwei Menschen dieselbe Farbe sehen können, daß aber zwei Menschen unmöglich denselben Schmerz empfinden können?
    Meiner ist dumpf. Nicht nur dumpf. An manchen Tagen ist er auch brennend, aber meist ist er dumpf.
    Ich glaube, es fing tatsächlich in jener Nacht an, als der Hund weggelaufen war, denn tief in meinem Schlaf spürte ich zum erstenmal diese sonderbare, dumpfe Spannung in der Nierengegend, ungefähr als würde jemand einen Fußball aufpumpen, den er dort hineingeschmuggelt hatte, pulsierend, langsam, ohne jede Rücksicht darauf, ob ich mich bewege oder nicht.
    Jedenfalls bemerkte ich ihn zum erstenmal in der Nacht, als der Hund weggelaufen war.
    Er beginnt meist in der Nacht, ich träume von ihm, lange bevor er mich geweckt hat, er existiert als etwas Bedrohliches in meinem Traum, und ich versuche mich ständig davon abzuwenden , nicht hinzusehen, ich drehe im Traum buchstäblich den Kopf

Weitere Kostenlose Bücher