Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
ihrer Geduld reizt mich fürchterlich, macht mich aggressiv. Sie sollten sich nicht damit abfinden... Womit? Damit, daß sie so lange warten müssen, bis sie mit dem Röntgen drankommen, mit der sonderbar unpersönlichen, fast fabrikmäßigen Behandlung, wobei es niemanden kümmert, daß sie den ganzen Tag da sitzen, nachdem sie so frühmorgens an winterlichen Bushaltestellen gewartet haben, daß sie da sitzen und darauf warten, an die Reihe zu kommen, ohne etwas gegessen zu haben, vor lauter Angst, ihren Platz auf der Warteliste zu verlieren?
Und trotzdem immer eine Art kameradschaftlicher Zusammenhalt, immer jemand, der sich bereit findet, einen zu alarmieren, falls die Schwester gerade dann den Namen aufruft, wenn man zum Rauchen auf dem Klo ist. Oder meine ich, daß es der Schmerz selbst ist, gegen den sie protestieren sollten, mit dem sie sich nicht abfinden sollten? Proletarier der Schmerzen, vereinigt euch!
(Das gelbe Buch I:5)
WAS MICH NICHT UMBRINGT, MACHT MICH STÄRKER . (Friedrich Nietzsche, deutscher Philosoph, 1844–1900)
(Das gelbe Buch I:6)
Februar 1975
Kaufmann
–
375,4
Zucker
–
42,9
Tabak
–
32,5
Nägel und Beschläge
–
16
Arztbesuch
–
7
Öl und Benzin
–
75,00 (cirka)
Ausgaben insgesamt
548,8
Reichsverband der Imker, Bonus
+
16.–
Kaufmann, Honig
+
255.–
Krankenkasse
+
304.–
Sundblads Pumpenmotor repariert
+
50.–
Bruttoeinkommen im Februar
+
625.–
Saldo
76.–
(Das gelbe Buch I:7)
Als der Brief vom Bezirkskrankenhaus in Västerås endlich kam, mochte ich ihn nicht aufmachen, sondern legte ihn zur Seite, blätterte Zeitungen und Zeitschriften durch, sah mir ein paar Rechnungen an und stellte fest, daß ich es mir ohnehin erst im nächsten Monat leisten könnte, sie zu bezahlen, und nahm schließlich den Hund zu einem ordentlichen, langen Spaziergang mit.
Es war ein graues, angenehmes Februarwetter, ziemlich kalt und daher nicht allzu feucht, und die ganze Landschaft war wie mit Bleistift gezeichnet. Ich weiß nicht, warum ich sie eigentlich so gern mag, sie ist ziemlich karg, und doch bekomme ich es nie satt, mich darin zu bewegen. Einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Lebens habe ich hier verbracht.
Solange ich verheiratet war, wohnte ich in Trummelsberg und fuhr mit dem Auto zu den Schulen; sie haben ja im Laufe der Jahre öfter gewechselt. Da ich sowohl zum Volksschullehrer als auch zum Werklehrer ausgebildet bin, konnte ich mir die Arbeit in den letzten Jahren ziemlich frei aussuchen, als eine Schulzusammenlegung auf die andere folgte. Und ich wurde immer mehr zum Werklehrer. Ich fand, die Klassen wurden allmählich zu groß, und außerdem hatte ich dadurch bessere Arbeitszeiten.
Als ich mich dann hatte scheiden lassen, bin ich hergezogen, bin tiefer in die Landschaft hineingezogen, könnte man sagen, und habe zugleich den Lehrerberuf aufgegeben. Es blieb sowieso kein Geld übrig, nachdem der Unterhaltsbeitrag bezahlt war, und daher habe ich einfach aufgehört, Geld zu verdienen, und habe mir statt dessen dreißig Bienenvölker angeschafft.
Zu meinem Erstaunen hat es sich gezeigt, daß das genauso gut geht. Krisen entstehen nur dann, wenn ich irgendwo hinfahren muß, wie jetzt zum Krankenhaus.
Als der Brief vom Bezirkskrankenhaus endlich kam, legte ich ihn ganz einfach zur Seite und machte einen Spaziergang. Ich fühlte mich ganz ruhig und betrachtete sehr gründlich all die kahlen Laubbäume am Weg. Ich bin ganz verliebt in dieses kahle Geäst vor einem bleifarbenen Himmel. Es ist, als seien es Buchstaben in einer fremden Sprache, die etwas mitzuteilen versuchen.
Die ganze Gegend mit ihren verrammelten Sommerhäuschen, schneebedeckten Gärten, aufgebockten Booten ist jetzt eigentlich unvergleichlich viel schöner als im Sommer. Dann wimmelt es hier von Leuten, eine ganze Reihe davon habe ich im Laufe der Jahre kennengelernt, manche laden mich sogar zu sich ein, auf ein Kartenspiel oder um ein Gläschen auf der Veranda zu trinken, und das ist ein angenehmes Gefühl. Ich bin keineswegs ein ungeselliger Mensch. Aber das hier, das ist das eigentliche Leben. Ob gut oder schlecht, ob einsam oder schön, es ist mein eigentliches Leben. Und jetzt versucht etwas, das stärker ist als ich, stärker als alle Gerichte und Regierungen und Behörden, es mir wegzunehmen.
Gerecht ist das nicht.
Als ich um die ganze Landzunge herumgelaufen war und dabei übrigens eine Elchfamilie aufgestört
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