Ritter 01 - Die Rache des Ritters
ihr Vater – der sanfte, liebevolle Mann, auf dessen Schoß sie als kleines Mädchen gesessen hatte, der die Wunden ihrer Kindheit durch Küsse geheilt und ihr in all den Nächten, in denen sie um den Verlust ihrer Mutter geweint hatte, die Tränen getrocknet hatte – in Wirklichkeit ein Fremder war. Ein abscheulicher Lügner. Und das konnte sie nicht glauben, wie sehr der Zweifel auch an ihr nagte.
Außerdem war Gunnar zur Zeit der Belagerung noch sehr jung gewesen – was hatte er gesagt, wann es gewesen war? Vor ungefähr dreizehn Jahren? Vielleicht hatte seine Sicht als Kind die Erinnerung verzerrt. Ja, so musste es gewesen sein! Und auch wenn ihr Vater bisher nicht bereit gewesen war, mit ihr über seine Verwicklung oder sogar sein Wissen über das Verbrechen zu reden, vielleicht konnte er alles erklären, wenn er genug Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken.
Wenn sie doch Gunnar nur davon überzeugen könnte, dass er ihrem Vater eine Chance geben musste, angehört zu werden.
Gunnar vermied es für den Rest des Tages, Raina zu begegnen, und ging dabei sogar so weit, trotz des drohenden Regens mit Alaric und seinen Männern auf die Jagd zu gehen. Und das nur, um für einige Stunden weit weg von der Burg zu sein. Narr, der er war, glaubte er, dass die Zeit der Abwesenheit seine Gedanken davon abhalten würde, zu Raina zu wandern und sie in seinen Armen zu halten.
Aber er sah ihr Gesicht bei jeder Wegbiegung vor sich, fühlte ihre Zartheit in der leichten Sommerbrise, roch ihren Duft in dem Geruch der Heide, der über den Hügeln lag. Der Klang seines Namens auf ihren Lippen hallte in seinem Kopf wider, ließ seine Lenden schon bei dem Gedanken daran erbeben, sie ihn wieder sagen zu hören, mit ihrer samtweichen Stimme, die heiser vor Leidenschaft war. Raina war unter seiner Haut und in seinem Blut – er konnte es nicht leugnen.
Mehr als einmal hatte er nicht gehört, dass einer seiner Männer ihn angesprochen hatte, und sie hatten ihre Fragen wiederholen müssen. Mehr als einmal traf sein Pfeil nicht das Ziel, und er hatte sich die Gelegenheit entgehen lassen müssen, leichte Beute zu machen. Gunnar war mit seinen Gedanken woanders, so wie schon in den wenigen vergangenen Tagen, und schließlich überließ er das Jagen seinen Männern und zügelte sein Pferd.
Er griff in die kleine Tasche, die er an seinem Schwertgürtel trug, und nahm den Ring heraus, den er Raina am ersten Abend auf der Burg abgenommen hatte. So zierlich und doch so stark. Schön und wahrhaftig. Wie sie …
Seine Mutter.
In jeder Erinnerung Gunnars an seine Mutter trug sie diesen Ring. Sie hatte ihm oft die Geschichte erzählt, wie sie in seinen Besitz gelangt war und wie viel er ihr bedeutete. Sein Vater hatte ihn ihr als Unterpfand seiner Zuneigung geschenkt, ehe er in den Krieg gezogen war. Es war ein Versprechen, dass er ihre Liebe mit sich nehmen würde an jedem Tag, dass er zurückkehren würde, um sein Leben seiner Liebe zu ihr und ihrem gemeinsamen Sohn zu widmen. Und genau das hatte er getan, hatte sie dem kleinen Gunnar mit einem wehmütigen Lächeln erzählt.
Was würde er dafür geben, noch einmal in ihr sanftes Antlitz schauen zu können!
Er ballte die Faust um den Ring und drückte die kostbare Erinnerung an sein Herz. Luther d’Bussy hatte den Ring an jenem Tag von ihrer leblosen Hand gezogen und dann die Unverfrorenheit besessen, ihn seiner Tochter zu schenken. Er hatte das Symbol des Guten und der Ehre geraubt und es mit einem Erbe aus Verrat und Betrug besudelt. Nicht, dass Raina für diese Tat verantwortlich gemacht werden konnte; sie trug den Ring mit demselben Stolz, mit dem seine Mutter ihn getragen hatte. Sie schätzte die Bedeutung, die er für sie hatte, höher als seinen Wert.
Gunnar hatte barsch reagiert, als er den Ring nach so vielen Jahren wiedergesehen hatte. Ohne Erklärung, ohne Entschuldigung hatte er ihn Raina weggenommen. Genau genommen war er kaum fähig gewesen zu denken, ganz zu schweigen davon, etwas zu sagen, als er begriffen hatte, dass er den Ring endlich zurückbekommen hatte. Seit so langer Zeit schon hatte er dessen Gegenstück verflucht und gepriesen, den Ring, den seine Mutter für seinen Vater hatte anfertigen lassen. Den Ring, den Merrick ihm vor einigen Tagen zurückgegeben hatte.
Diesen Ring zu tragen, würde Gunnar sich erst an dem Tag gestatten, an dem der Mord an seinen Eltern gesühnt war.
Dass Raina dadurch ihren Vater verlor, den sie offensichtlich so sehr liebte, war
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