Ritualmord
trank Cider und sah dem Walking Man bei seinem abendlichen Ritual zu - wie er seine Kleider auszog, einpackte und unter den Schlafsack legte, wo sie nicht feucht werden konnten. Nachts trug er eine spezielle Schlafkleidung. Sie war dreckig, wirkte aber teuer, Hightechmaterial aus einem dieser Extremsportläden. Caffery erkannte das 0 3 -Logo von Fleas Taucheranzug wieder. Als er fertig war, zog der Walking Man seinen Mantel an und fuhr fort herumzuhantieren und für die Nacht Holz auf das Feuer zu legen.
Caffery wusste, dass seine Zeit gleich um sein würde. »Hören Sie«, er räusperte sich, »ich habe Ihnen gegeben, was Sie haben wollten. Jetzt - jetzt sind Sie an der Reihe. Sie müssen mir erzählen, wie es war, was Sie mit Craig Evans gemacht haben.«
»Wenn ich so weit bin. Erst, wenn ich so weit bin.«
»Sie haben es versprochen.«
Der Walking Man schnaubte. »Ich habe gesagt, wenn ich so weit hin. Ich muss erst noch über Sie nachdenken.« Er warf noch ein Stück Holz auf das Feuer und klopfte sich dann die Hände ab. »Sagen Sie, was sehen Sie, wenn Sie diesen Mädchen ins Gesicht schauen? Diesen Prostituierten, mit denen Sie nicht oft genug schlafen?«
Caffery runzelte die Stirn. Er musste sich eine Zigarette dre-
hen, bevor er antwortete. »Ich schaue nicht hin«, erwiderte er und zündete sie an. »Ich versuche, nichts zu sehen. Ich meine, was immer auch passiert, ich will mein eigenes Spiegelbild nicht sehen.«
»Ja, denn wenn Sie es sehen, wissen Sie, was Sie dann wirklich sehen?«
»Nein.«
»Sie sehen den Tod.«
»Den Tod?«
»Ja, den Tod. Oh, Sie haben immer noch eine Wahl. Aber im Moment treffen Sie die gleiche Wahl wie ich.«
»Die gleiche Wahl} Ich treffe nirgends die gleiche Wahl wie Sie.«
Der Walking Man lächelte und warf das letzte Stück Holz ins Feuer. »Doch, das tun Sie. Und für den Augenblick haben Sie den Tod gewählt. Ja. Das ist es, was Sie suchen. Sie suchen den Tod.«
Caffery öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber die Worte des Walking Man ließen ihn innehalten.
Der Walking Man lachte, als er sein Gesicht sah. »Ich weiß. Ist ein Schock, nicht wahr, wenn man sich das erste Mal umdreht und die Brücke sieht, die man da überquert. Ein Schock, wenn man begreift, dass man das Leben aufgegeben hat. Dass man in Wirklichkeit auf den Tod hofft.«
Caffery klappte den Mund zu. »Nein. Das stimmt nicht. Ich bin nicht wie Sie.«
»Doch. Sie sind Jack Caffery, Polizist. Sie sind genau wie ich. Der einzige Unterschied ist der, dass meine Augen offen sind.« Mit Daumen und Zeigefinger spreizte er seine Augenlider auseinander, sodass man die rötlichen Ränder seines Augapfels erkennen konnte. Im Feuerschein wirkte er plötzlich monströs, wie ein nächtliches Ungeheuer, eine Chimäre. »Sehen Sie? Ich schaue nicht weg. Ich weiß, dass ich versuche zu sterben. Und Sie?« Er lachte. »Sie ahnen es noch nicht mal.«
31
17. Mai
Einmal, in der ersten Zeit seines Zusammenlebens mit Rebecca im Reihenhaus seiner Familie in Southeast London, hatte sie nach einem besonders abscheulichen Streit Cafferys Gesicht mit ihren Händen umfasst und mit einer zärtlichen und nicht wütenden Stimme gesagt: »Jack, manchmal ist es mit dir, als wäre man nicht mit jemandem zusammen, der noch lebt, sondern mit einem, der stirbt.«
Vier Jahre lang hatte er diese Worte irgendwo in seinen Hinterkopf eingesperrt; hatte versucht, sie nicht zu vergessen, vermied es jedoch, eingehender darüber nachzudenken, und so wurden sie zu so was wie einer Erinnerung an ihr Parfüm oder an eine fast vergessene Melodie. Aber dann tauchte der Walking Man auf und brachte die Erinnerung jäh wieder zurück.
Etwas in ihm hatte sich geöffnet, und das verursachte ihm Nackenschmerzen. Ohne genau zu verstehen, warum, hatte er gewusst, dass der Walking Man auf Keelie und die anderen Mädchen in der City Road zu sprechen kommen und behaupten würde, da gehe es um den Tod und darum, dass er auf den Tod hoffe. Und dann würde er sofort auf Cafferys Job hinweisen. »Und was den betrifft«, würde er sagen, »geht es da eindeutig um Ihren Tod.«
Als er am nächsten Morgen in seinem Büro in Kingswood saß, eine Tasse Kaffee und ein Sandwich vor sich auf dem Schreibtisch, und das orangegelbe Kurierpaket von Marilyn öffnete, dachte Caffery an seinen Job als eine Art Tod. Auf einen dienstlichen Briefbogen hatte Marilyn gekritzelt: »Ruf an, wenn du noch mehr RATSCHLAGE brauchst. Alles Liebe, M
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