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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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nichts nachweisen.« Er schluckte, nahm die Hände herunter, hielt den Daumen ins Licht des Feuers und drehte ihn hin und her. »An dem Tag, als er verschwand, bekam ich eine Blutblase unter dem Daumennagel, die nicht weggehen wollte. Sie hätte herauswachsen müssen, aber sie tat es nicht. Niemand konnte 
    es erklären - kein Arzt, niemand.« Er lächelte betrübt. »Ich hab sie all die Jahre hindurch beobachtet und immer gedacht, an dem Tag, an dem ich meinen Bruder finde, wird der Nagel wieder anfangen zu wachsen. Aber schauen Sie.«
    Er streckte den Daumen aus. Der Walking Man richtete sich auf und kam auf seinen Pantoffeln zurück, um den Nagel zu betrachten.
    »Ich sehe nichts.«
    »Ist fast vier Jahre her. Nach all der Zeit fing er plötzlich wieder an zu wachsen. Die Blutblase wuchs heraus, und damit verschwand auch das Gefühl. Das Gefühl für den Ort, an dem es passiert war, verschwand - einfach so. Es verschwand, als hätte man mir gesagt, die Antwort sei nicht da zu finden, wo ich war - in Southeast London -, sondern woanders.«
    »Hier?«
    »Das weiß ich nicht. Auf dem Land. Vielleicht hier, vielleicht anderswo.« Er ließ die Hand sinken und starrte zu den Lichtern von Bristol hinüber, dachte dabei an den Osten, an Norfolk.
    »Da ist noch was anderes passiert«, sagte der Walking Man. »Vor vier Jahren ist noch etwas anderes passiert.«
    »Vielleicht.« Caffery zuckte die Achseln. »Ich glaube, ich war kurz davor, ihn zu finden, das ist alles.«
    »Jemand ist gestorben. Ich glaube, auch das ist passiert.« Der Walking Man atmete zwei- oder dreimal tief durch. »Ich glaube, dass jemand gestorben ist, als Sie die Verbindung verloren haben.«
    Caffery nickte. »Ja«, sagte er leise. »Da ist auch jemand gestorben.« »Ja?«
    »Der, der es getan hat. Penderecki. Ivan Penderecki. Er starb. Selbstmord. Falls Sie sich fragen.«
    »Ich hab mich nicht gefragt.« Der Walking Man stocherte im Feuer herum.  

    Ein paar Minuten vergingen. Caffery drehte diesen neuen Gedanken im Kopf hin und her - dass Pendereckis Tod die Verbindung beendet haben könnte. Daran hatte er noch nie gedacht. Als der Walking Man wieder sprach, klang seine Stimme völlig verändert. »Wie hieß er?«, fragte er leise.
    Darauf war Caffery nicht gefasst. Seit Jahren hatte ihn niemand danach gefragt. Alle sagten immer nur »Ihr Bruder« oder »er«, als dächten sie, es sei zu schrecklich, seinen Namen auszusprechen. »Er hieß... Ewan.«
    »Ewan«, wiederholte der Walking Man. »Ewan.«
    Als Caffery hörte, wie er den Namen aussprach, so sanft, als sagte er ihn zu einem Kind, schnürte es ihm die Kehle zu. Wieder musste er den Finger hinter das Kiefergelenk pressen, bis das Gefühl verging und er wieder atmen konnte. Er öffnete den Ciderkrug, trank ein bisschen und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Er sah zu den Sternen empor und erlaubte seinen Gedanken, nicht zu Ewan, sondern zu Flea zu wandern, zu Flea auf dem Kai, wie sie eine fremde Hand in der ihren hielt und zu ihm aufschaute, als wollte sie sagen: »Keine Sorge, ich kann das übernehmen. Geh und setz dich irgendwohin - nimm dir ein bisschen Zeit für dich allein.« Er konnte sich den Grund nicht erklären, aber er hätte sich gern ausgeruht in diesem Blick.
    Er griff in die Tasche und brachte eine kleine braune Tüte zum Vorschein. Die Krokuszwiebeln darin sahen aus wie kleine, raue Kugeln mit einer papierenen braunen Haut, die abfiel, als er sie berührte. Als der Walking Man sich seine Socken anzog, streckte Caffery ihm die Hand hin. Die Tüte stand auf der Handfläche, und im Feuerschein leuchteten die dunklen Umrisse darin wie Kohlen.
    Der Walking Man hielt inne, starrte die Tüte eine Weile an. Dann stand er wortlos auf und ergriff sie. Er nahm eine Zwiebel heraus, hielt sie ans Licht und drehte sie in seinen geschwärzten Fingern.  

    »Der Vernus.« Er betrachtete die Knolle ehrfürchtig, als stünde da eine Botschaft auf der Schale. »Wenn er herauskommt, der Vernus, dann ist seine Farbe ein perfektes Delfter Blau. Nur ein bisschen Orange in der Mitte, wie ein Eidotter. Oder ein Stern.«
    Er legte die Zwiebel zurück in die Tüte und stocherte mit dem Finger darin herum wie ein Kind, das samstagmorgens an der Straßenecke seine Bonbons zählt. Er faltete die Tüte sorgfältig zu und schob sie in die Brusttasche seines schmutzigen Mantels, und dann stocherte er wieder im Feuer herum, als wäre nichts geschehen.
    Sie sprachen eine Weile nicht miteinander. Caffery

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