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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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gegangen    »Schau nach unten, Flea.« Ihre Knochenhand deutete abwärts. »Kannst du es sehen?«
    Mit klopfendem Herzen ruderte Flea, um ihre Position stabil zu halten, und sie spähte in die Richtung, die Mum ihr zeigte. Jetzt bemerkte sie, dass sie sich nicht auf dem Grund des Sinklochs befanden, sondern an seiner abfallenden Flanke. Und dort unten, gespenstisch leuchtend in der Dunkelheit, erkannte sie den Grund. Mindestens zwanzig Meter tief unter ihr.
    »Ihr seid nicht bis ganz unten gesunken. Darum haben wir euch nicht gefunden.«
    »Jetzt hör zu, Flea. Beim letzten Mal haben sie uns nicht gefunden, aber diesmal werden sie uns finden. Diesmal werden sie uns finden...«
    »Diesmal?«
    Flea streckte die Hand aus, aber sie griff in den Sand. Sie konnte ihre Mutter nicht mehr sehen und geriet in Panik.
    »Es ist wichtig, Flea, so wichtig. Sie dürfen uns nicht heraufholen. Hast du gehört?«
    »Mum? Mum ?«, rief sie mit tränenerstickter Stimme. »Mum? Komm zurück. Bitte.«
    »Lass nicht zu, dass sie uns aus dem Loch holen, was auch passieren mag. Lass uns hier. Lass uns einfach hier.«
    »Geh nicht, Mum. Mummy...«
    Aber der schwebende Sand erstickte alles, auch die Stimme, und sie hatte Schlamm im Mund, und schmutziges Wasser flutete durch ihren Körper. Die Übelkeit kehrte zurück, und sie fing an zu trudeln: Es war schlimmer als jede Narkose oder Sauerstoffvergiftung, die sie je erlebt hatte, und sie musste die Augen öffnen und sich an das Sofa klammern. Über ihr drehte sich die Zimmerdecke wie rasend, und die schmutzig gelbe Lampe kreiste wie eine Zentrifuge. Das Tageslicht blendete sie, 
    und sie hörte ein seltsames Geräusch, ein hohes Wimmern, das aus ihrem eigenen Mund kam. Sie wollte sich aufrichten, aber als sie es versuchte, wusste sie, dass sie sich übergeben würde.
    »O mein Gott«, murmelte sie. »O mein Gott.«
    Mit knapper Not erreichte sie die Schüssel, die Kaiser ihr hingestellt hatte, und dann hing sie würgend und weinend darüber, bis alles vorbei und sie wieder ganz in ihren Körper zurückgekehrt war. Die Stimme ihrer Mutter verhallte wie in einem langen Tunnel: Was auch passieren mag... lass uns hier...
    30
    16. Mai
    Das Einzige, was Jack Caffery mir immer noch nicht gesagt hat, ist, warum er mich sehen will. Ich bin kein Hellseher und kein Gedankenleser. Ich habe keine magischen Kräfte, keine Augen wie ein Gott. Aber ich glaube nicht, dass Sie in polizeilichen Angelegenheiten hier sind.«
    »Nicht in polizeilichen Angelegenheiten, nein. In eigener Sache.«
    »Und was wäre das für eine Sache?«
    Caffery rieb sich die Nase. Es war ein verrückter Tag gewesen. Dass jemand Geld dafür bezahlte, Menschenblut in seinem Haus zu haben, überstieg sein Fassungsvermögen. Aber jetzt, da das Tongefäß in der Zentrale untersucht und Mabuza überwacht wurde, war er mit dem, was er dienstlich tun konnte, am Ende. Er war nach Hause gefahren und hatte versucht, ein bisschen zu schlafen, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas ihn beobachtete, dass mit den Schatten im Haus 
    etwas nicht stimmte; also hatte er sich wieder ins Auto gesetzt und den Walking Man gesucht, jedoch nicht damit gerechnet, ihn so schnell zu finden. Und auch nicht damit, dass der Walking Man so schnell versuchen würde, die Wahrheit aus ihm herauszuholen.
    »Jack Caffery?« Der Walking Man trug seine Lammfellpantoffeln. Er hatte seine Stiefel mit Lappen ausgestopft, und jetzt steckte er sie in eine Plastiktüte und schob sie in den kleinen Graben vor der Hecke. Er wischte sich die Hände ab. »Ich habe Sie etwas gefragt, Jack Caffery. Was für eine Sache wäre das?«
    Caffery starrte ins Feuer und sah, dass ein paar der unteren Holzscheite weiße und rote Hitzekrusten hatten, die aussahen wie alte Wunden. »Da ist jemand verschwunden«, sagte er. »Wurde geraubt. Aus meinem Leben.«
    »Ihre Tochter?«
    »Nein, nein. Nicht meine Tochter. Ich habe keine Kinder. Werde auch keine mehr bekommen.«
    »Ihre Frau?«
    »Nein, die hab ich verlassen. Vor zwei Monaten. Hab sie sitzen lassen.«
    »Wer dann?«
    »Mein Bruder. Das war damals in den...« Er stockte. »Es ist schon lange her.«
    »Als Sie Kinder waren?«
    »Ja. In London. Wir... Na ja, Sie wissen doch, wie das ist.« Er drückte die Fingerspitzen leicht in die Mulden hinter dem Kiefergelenk; er hatte gelernt, damit das Weinen zu unterdrücken. »Wir, äh... wir haben ihn nie gefunden. Alle wussten, wer ihn entführt hatte, aber die Polizei konnte ihm

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