Ritualmord
x.«
»Danke, Marilyn.« Er lächelte sarkastisch, knüllte das Blatt
zusammen und wollte es in den Papierkorb werfen, aber dann überlegte er es sich anders. Er nahm einen Klebstreifen und befestigte es damit an der Wand, damit Marilyn tun konnte, was sie immer hatte tun wollen: ihn beständig im Auge behalten. Dann widmete er sich dem Paket und zog langsam die verschiedenen Hüllen und gebundenen Mappen heraus. Es war alles da, was er sich nur wünschen konnte: fotokopierte Aufsätze über afrikanische Rituale, eine Mappe mit Zeitungsausschnitten über »Adam«, den Jungen aus der Themse, eine Liste von Ansprechpartnern an britischen und ausländischen Universitäten. Einer von denen saß in Bristol, wie er feststellte. In einer durchsichtigen rosa Hülle befand sich eine CD mit der Aufschrift »Swalcliffe.pdf«. Ein Vortrag im Format von Adobe Acrobat. Er schob sie in den Computer.
Das Logo der Metropolitan Police erschien auf dem Bildschirm, und er vermutete, dass Marilyn die Präsentation selbst zusammengestellt hatte. Sie war während ihrer Zusammenarbeit mit ihm für die Datenerfassung bei der polizeilichen Präventionsdatenbank verantwortlich und hatte ihre Computer heiß geliebt. Das Ganze war als Seminarvortrag angelegt, und größere Dateien waren durch Hyperlinks mit der Präsentation verknüpft. Während die Sonne immer höher stieg und das Revier Kingswood zum Leben erwachte, dankte er Marilyn im Stillen für ihren Computerfimmel. In zwei Stunden hatte er mehr über einen ihm rätselhaften Kontinent erfahren, als er jemals gewusst hatte.
Muti war, wie sie schon gesagt hatte, ein sehr viel weiteres Feld, als er sich vorstellen konnte. Es begann auf dem Boden, wo Medizinmänner »Knochen warfen«: Sie ließen heilige Objekte - Knochen, Bohnen, Steine - in einen Kreis fallen, um Aufschluss über die Bedürfnisse eines Klienten zu erhalten. Aus dem, was der Medizinmann herauslas, ergab sich das Heilmittel; die Liste der Heilmittel selbst war von verwirrender Vielfalt. Es gab Buschbabyfelle für Kinder, die zu viel
weinten, Mollusken, die verhinderten, dass man von seinem Partner betrogen wurde, Schuppentiere und Erdferkelklauen. Anscheinend spielte jeder Teil von fast jedem Tier irgendeine Rolle bei muti.
Caffery versuchte die Seite bis zum Ende zu lesen, aber die Wörter verschwammen ihm nach dem zwanzigsten Eintrag vor den Augen, und so kehrte er zum Hauptteil des Vortrags zurück. Nachdem er darauf geklickt hatte, war ihm sofort klar, dass er jetzt in einen dunkleren Teil gelangt war: Es ging um menschliche Körperteile. Als Erstes erschien das Bild eines menschlichen Schädels neben einem Maßband auf einem Seziertisch. Er las den Text sorgfältig und nahm sich Zeit, ihn zu verdauen. Die meisten der bei muti verwandten menschlichen Körperteile stammten von Leichen, aber das muti der Toten war schwach im Vergleich zu dem der Lebenden: Die Medizin wirkte stärker, wenn das Opfer noch lebte, während man ihm den Körperteil abtrennte. Je lauter die Schreie, desto besser - und die stärkste Medizin kam von einem lebenden Kind. Es drehte sich alles um Reinheit.
Er wandte sich vom Bildschirm ab; er hatte plötzlich genug, und seine Augen schmerzten. Nachdenklich löffelte er Zucker in seinen Kaffee und sah versonnen zu, wie er eine kleine Insel bildete, die dann langsam versank. Vage erinnerte er sich, gehört zu haben, dass in Südafrika sechs Männer wegen Vergewaltigung eines neun Monate alten Babys vor Gericht gestellt worden waren; sie hatten geglaubt, diese Art Sex sei ein Heilmittel gegen AIDS. Es war ein Gedanke, der ihm im Kopf wehtat.
Der nächste Abschnitt des Vortrags definierte den Unterschied zwischen Menschenopfern, bei denen der Tod einer Person das Wichtigste war, weil damit eine Gottheit beschwichtigt werden sollte, und muti- Morden, bei denen es darum ging, Körperteile für die Verwendung in der traditionellen Medizin zu erhalten. Das Gehirn verleiht dem Klienten
Wissen. Die Brüste und Genitalien beider Geschlechter verleihen Manneskraft. Mit einer Nase oder einem Augenlid kann man einen Feind vergiften. Das nächste Bild zeigte ein unbestimmbares Stück Fleisch auf einem Handtuch. Erst als er die Unterschrift las, wusste er, was er da vor sich sah: Ein Penis kann Erfolg beim Pferderennen bringen.
»O Gott«, murmelte er und rutschte voller Unbehagen auf seinem Stuhl herum. Ein Whisky wäre ihm jetzt lieber gewesen als der Kaffee, aber wenn er sich den gestattete,
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