Ritualmord
ab. Zuerst eine Skeletthand, erhoben und gespreizt im eisigen Wasser; der Ärmel des Neoprenanzugs endete am knochigen Handgelenk. Dann eine zweite Hand, das Licht laserte gespenstisch zwischen den Fingern hindurch. Flea schlug das Herz bis zum Hals. Eine zweite Gestalt erschien neben der ersten in der Dunkelheit: die geduckte Gestalt eines Tauchers, steif und zusammengeklappt wie ein Taschenmesser. Der Kopf war mit dem Gesicht voran im Schlick vergraben, und auf den Glasflaschen stand in Schablonenschrift das Wort »Inspiration«. Zwei Leichen - nur zehn Meter weit entfernt, sie konnte sie fast berühren. Es schnürte ihr die Kehle zu, als
sie hinüberschwamm und die schreckliche Haltung der beiden Gestalten sah. Sie wusste, dass es Mum und Dad waren.
Sie wollte »Nein« sagen, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Panisch zog sie die Arme zurück und hätte am liebsten geschrien. Mum und Dad, in ihren Gräbern. Aber bevor sie rufen konnte, setzte ein neues Geräusch ein. Es klang wie der Wind, der durch eine Bergspalte pfeift, ohrenbetäubend laut, und dann wirbelndes Wasser und blitzendes Licht, als öffnete sich eine Tür, und im Handumdrehen waren die Leichen verschwunden, und in ihrem Kopf herrschte Stille.
Sie öffnete die Augen, blieb reglos liegen und verzeichnete, was sie sehen konnte. Vor ihr war ein von hinten beleuchteter Vorhang. Schmutzige Fenster, eine Thermoskanne Kaffee auf dem Tisch, die Schränke an den Wänden, die immer verschlossen waren. Kaisers Masken, die Masken seiner Familie, mit denen sie als Kind hatte spielen dürfen, blickten aus scheinbar großer Ferne auf sie herab. Das Brummen eines einmotorigen Flugzeugs zog über dem Haus hinweg, Licht schien ihr in die Augen, und sie erkannte, wie dumm sie gewesen war: Sie befand sich nicht in Bushman's Hole, sondern auf dem Sofa in Kaisers Haus.
Irgendwo summte eine Fliege, und Kaiser klapperte auf der Computertastatur. Aber als sie sich in die Richtung drehte, aus der das Geräusch kam, wurde ihr schwindlig, und es war, als müsste sie sich übergeben - trotz der Tabletten gegen die Reisekrankheit. Also wechselte sie behutsam die Position, und als sie bequem lag, hielt sie sich ganz still und versuchte, sich auf die Thermoskanne zu konzentrieren. Dann schloss sie erneut die Augen. Sofort blubberten Farben aus den Ecken hervor, breiteten sich unter ihren Lidern aus wie Öl auf dem Wasser und wurden pulsierend größer und größer, bis sie ihren Kopf ausfüllten und wie schwellende Ballons in ihre Nasengänge eindrangen; der Druck nahm ihr den Atem und wurde so gewaltig, dass ihr Kopf zu platzen drohte.
Sie hob ein wenig die Hand, um die Farben wegzuwischen. Ein leises Geräusch drang aus ihrer Kehle, ein flehender Laut, und sie wünschte, es würde aufhören. Als sie dachte, sie könne es nicht mehr länger ertragen, zerplatzte die Blase, und nichts blieb zurück - nur kalte, klare Dunkelheit. Erst nach einer Weile begriff sie, dass sie wieder im eisigen Wasser von Boesmansgat schwamm.
»Mum?« Sie versuchte zu sprechen, aber ihre Zunge war schwer. »Mum?«
Sie bewegte die Arme im Wasser. Sie wollte das Gesicht ihrer Mutter hinter der Maske sehen, ihre Augen.
»Mum?«
Unvermittelt erschien ein Gesicht. Es war halb skelettiert und trug eine Tauchermaske; ringsherum schwebte blondes Haar und etwas Weißes, Durchscheinendes: ein weißes Hemd, das sich im Wasser blähte wie eine Wolke. Erschrocken wich Flea zurück.
»Oh, Flea«, hörte sie eine Stimme. »Bist du das, Flea? Mein Baby... wo bist du ?«
»Mum?« Verzweifelt streckte sie die Hand aus, öffnete und schloss die Finger im Dunkeln; vielleicht würde sie eine menschliche Hand zu fassen bekommen. »Mum, ich bin hier. Hier drüben. Mum, bitte, ich versuche es schon so lange. Oh, Mummy, du fehlst mir, Mummy - so sehr.«
Unwillkürlich, obwohl sie im Wasser war und Mühe hatte, nicht rückwärtszutrudeln, wusste Flea, dass ihr körperliches Ich weinte. Nicht unten in der Unterwasserhöhle, sondern oben, wo ihr Körper auf Kaisers Sofa lag.
Feiner Sand wirbelte um das furchtbar zerstörte Gesicht. Eine Woge der Übelkeit stieg in ihr auf, und Flea senkte den Kopf, um ihr entgegenzuwirken. Das Bild hörte auf zu schwanken, und Mum sprach wieder: »Flea. Nicht weinen.« Ihre Stimme klang sonderbar, nicht wie früher, sondern sanft, leise und ein wenig flach. »Nicht weinen, Flea.«
»Mum, was wolltest du mir sagen? Was hast du gemeint: >Wir sind in die andere Richtung
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