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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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enttäuscht. So etwas hatte sie schon zu oft bei Bauern, Hirten und Jägern gesehen: den unerschütterlichen Willen, die Bestien ein für alle Mal auszumerzen.
    »Nein. Bin ich nicht mehr. Ich habe die Hoffnung meines Vaters nie wirklich geteilt«, gab er unumwunden zu. »Es gibt eine Theorie, die besagt, dass nach einem halben Jahr der Werwolf die völlige Kontrolle erlangt hat und er den Menschen verändert. Damit meine ich nicht die Verwandlungen. Die nächtlichen Streifzüge als Wolf beispielsweise machen einen Menschen müde und erschöpfen ihn. Es stellt sich ein furchtbarer, dauerhafter Durst ein, ein unstillbares Verlangen nach Blut. Von da an kann es keine Rückkehr mehr in ein normales Leben geben.« Er deutete nach vorne. Rauschen und Donnern lag in der Luft. »Schauen Sie sich das an!«
    Nach hundert Metern standen sie an einem Abgrund, vor sich die steile Schlucht. Durch sie rauschte das Wasser, das die Plitvicer Seen speiste; auf der anderen Seite stürzte sich der Plitvice-Wasserfall dreiundsiebzig Meter in die Tiefe. Das Panorama war atemberaubend schön.
    Er hatte gehofft, dass Lena von dem Anblick abgelenkt wäre, wurde aber enttäuscht. »Und deswegen muss man sie erschießen, ja?«, schrie sie in sein Ohr.
    »Werwölfe sind auch als Menschen sehr rastlos, sie neigen zu regelmäßigen Wutausbrüchen und legen eine hohe Aggressivität an den Tag. Es steigert sich weiter und weiter«, rief Eric durch das Tosen des Wassers. »Einige von ihnen kanalisieren ihre Wut und ihren Hass in weltliche Ziele, suchen Reichtum und Macht – viele andere sondern sich mehr und mehr von der Umwelt ab und werden zu Einzelgängern. Wenn diese Faktoren eingetreten sind, ist es zu spät. Nichts trennt Bestie und Mensch mehr voneinander.« Er nickte ihr zu. »Um auf die Frage zu antworten: Ja, ich muss sie erschießen. Es gibt keine Heilung. Durch den Mord an meinem Vater haben sich die Wandelwesen nur den Tod als Ausweg offen gelassen.«
    »Sie sind bisher vielleicht immer nur an die hoffnungslosen Fälle geraten.« Lena weigerte sich, seinen pessimistischen Standpunkt zu teilen. »Wir haben ein halbes Jahr Zeit, um die Opfer zu retten. Eric, wir können zusammenarbeiten, um die Wandelwesen …«
    Eric schüttelte den Kopf. »Sie sind eine Wolfs-Forscherin, Lena, keine Werwolf-Forscherin.«
    »Die Arten liegen dicht beieinander, wie mir scheint.«
    Jetzt hatte sie es geschafft und ihn wütend gemacht. Er trat einen Schritt auf sie zu und drängte sie ans Geländer zurück. »Verdammt, seien Sie vernünftig! Sie haben vor drei Tagen zum ersten Mal von den Wesen gehört und wollen mir Vorschriften machen, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe? Meine Familie tut es seit Jahrhunderten …«
    »Man hat früher auch Urin auf Wunden geschmiert, damit sie heilen«, giftete sie. Sie ärgerte sich über diese Ignoranz. »Wissen Sie was? Ihr Vater hatte Recht, als er nach einer Heilung suchte. Ich werde versuchen, ein Gegenmittel zu schaffen. Es wird sicher irgendwo noch mehr Abschriften von solchen alten Rezepturen geben.«
    Er stieß den Atem aus – und gab es auf, sie umzustimmen. Still leistete er den Schwur, sie nicht zu retten, wenn sie in Gefahr geraten sollte. Oder zumindest erst ganz spät. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber Sie werden es allein tun. Nur diese Reise, danach geht jeder seiner Wege«, erinnerte er sie noch einmal und folgte dann dem Pfad hinunter zu den Stegen, die am See entlang und darüber führten. Lena stapfte kopfschüttelnd hinter ihm her.
     
    Während ihrer Wanderung über die verschneiten und teilweise gefährlich glatten Holzstege entdeckten sie mehrere Grotten und Höhlen. Teilweise lagen sie unter der Wasseroberfläche, als bildeten sie Eingänge zu einem unterseeischen Reich. Die Gischt der kleineren Wasserfälle überzog die Ufer mit Reif und Eis; auf den Halmen des Schilfs und den Ästen lag der Schnee fingerdick.
    Eric hätte das winterliche Idyll beinahe genießen können, wenn die Gedanken an die Bestie nicht gewesen wären. Wenigstens besaßen sie den kleinen Vorteil, dass ihr Gegner nicht mit einem Besuch rechnete.
    Zumindest hoffte er das.
    Am Ufer des Kozjak-Sees kam ihnen eine Gruppe von fünf Asiaten entgegen, die unentwegt fotografierten; sie unterhielten sich leise in ihrer Muttersprache und priesen gestenreich die bezaubernde Natur, während einer von ihnen versuchte, seinen kleinen Hund zu bändigen. Eric bezeichnete solche Hunde abwertend als Taschenratte:

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