Ritus
Schicksals.
Pierre hatte sich Gleitschuhe unter die dicken Stiefel geschnallt, um im Schnee nicht einzusinken. Sie bestanden aus einem gebogenen Holzrahmen und waren mit Leder bespannt, das eine gute Auflagefläche bot und ihn mit deutlich weniger Anstrengung voranbrachte, als wenn er versuchte, in einfachen Stiefeln durch das Weiß zu marschieren. Mit ein wenig Geschick gelang es sogar, bergab über den Schnee zu rutschen und so die eigenen Kräfte zu schonen; gelenkt wurde mit einer langen Stange und durch die Verlagerung des Gewichts.
Die Muskete über seinem Rücken behinderte ihn in seiner Beweglichkeit, aber ohne sie ging er nicht vor die Tür: Sie gab ihm Sicherheit. Lieutenant de Beauterne hatte die Bestie offiziell erlegt, und es war inzwischen auf Anordnung des Königs sogar verboten, von ihr in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Dessen ungeachtet geschahen Morde. Zeugen hatten die Bestie gesehen, doch niemand scherte sich darum, von dem jungen Marquis d’Apcher einmal abgesehen. Für den König in Versailles war die Bestie tot.
Sie wird wieder töten. Es tat ihm vor allem Leid um Julienne Denis, die Schwester des tapferen jungen Jacques. Sie war an Heiligabend verschwunden, und gestern hatte man menschliche Überreste am Planchette-Fluss gefunden. Es war nicht mehr geblieben als gefrorene Fleischfetzen, zerbissene Knochen und Überbleibsel von Innereien. Aus dem Kadaver wurde nicht ersichtlich, ob es sich um Julienne handelte. Jacques und Jean Chastel gaben die Suche nach ihr nicht auf; dennoch nahm jeder an, dass die junge Frau der Bestie als Mahlzeit gedient hatte.
Die trüben Gedanken schwanden. Gleich bin ich beim Kloster. Er und Florence trafen sich so oft wie möglich – und trotzdem viel zu selten – in der Nähstube, wo sie sich zwischen der Wolle und den Stoffbahnen ein Liebesnest gebaut hatten. Dort konnten sie sich leidenschaftlich küssen, einander zärtlich berühren und den Körper des geliebten Menschen erkunden; sie streichelten sich gegenseitig in leise Ekstase, wobei es ihnen immer schwerer fiel, nicht mehr als ein lustvolles Stöhnen von sich zu geben.
Pierres Puls beschleunigte sich. Heute, nach all diesen Wochen, würden sie weiter gehen. Sie wollten nicht bis zu ihrer Hochzeitsnacht warten, dafür brannten die Leidenschaft und ihre Liebe zu heiß. Schicklichkeit hin oder her, sie sehnten sich beide danach. Er sah ihren weißen Körper vor sich, stellte sich vor, wie er ihre weichen Brüste und ihre feuchte, warme Scham mit den Fingern und der Zunge liebkoste, während sie seinen Schaft mit ihren Lippen umfing und ihm Freude bereitete. Die Gedanken reichten aus, um seine Männlichkeit trotz der Kälte aus dem Schlummer zu reißen.
Hoffentlich würde sie heute wirklich zu ihm kommen! Schon einige Male, wenn es ihm gelungen war, sich aus der Hütte zu schleichen, erschien Florence trotz des verabredeten Signals nicht in der Pilgerkapelle, von der aus sie gemeinsam durch die Klosterkirche über den Hof in die Näherei gelangten. Stets erzählte sie ihm beim nächsten Wiedersehen, dass die Äbtissin nachts um die Gebäude des Klosters streifte. Als wüsste sie, was die jungen Menschen trieben. Als würde sie die Gefahr wittern, in der ihr Mündel schwebte, wenn sie sich mit einem Mann einließ, der ein dunkles Geheimnis verbergen musste.
Pierre sah die verschneiten Dächer der Klostergebäude im Licht des zunehmenden Mondes schimmern; er lehnte sich auf den Stab und schöpfte Luft, die so eisig war, dass sie ihm in den Lungen wehtat. Er nahm jede Anstrengung in Kauf. Selbst ein Schneesturm hätte ihn nicht davon abgehalten, zu seiner Geliebten zu gehen.
Heute Nacht soll es geschehen. Endlich vereinigen wir uns! Und dann werde ich Vater und der ehrwürdigen Äbtissin Gregoria alles gestehen und um die Hand von Florence bitten. Ich kann nicht mehr ohne sie sein.
Die Sache war schon lange zwischen ihm und der jungen Frau besprochen. Sie hatten sich ewige Treue geschworen, ganz gleich, was Jean Chastel und die Äbtissin dazu sagten. Getrübt wurde sein Glück nur von der Bestie. Erst ihr Tod und ihr Blut würden den Fluch sprengen, der auf ihm lag. Da er sich schon lange nicht mehr verwandelt hatte, hoffte er, dass es ihm zumindest teilweise durch seinen eigenen Willen gelingen konnte, die Verwandlung zum Loup-Garou zu unterdrücken. Er würde es sich niemals verzeihen, wenn er Florence etwas antat.
Pierre wollte sich kraftvoll abstoßen, als er lautes, ungewöhnliches Heulen zu
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