Ritus
einzigen Wintertraum verwandelt. Den Mittelpunkt des Parks bildeten die Plitvicer Seen, eine Kette aus Gewässern, die terrassenförmig untereinander lagen. Verbunden wurden sie durch über Felsstufen herabstürzende Wasserfälle, unzählige kleinere Bassins und Wasserläufe. Der hohe Kalkanteil im glasklaren Wasser verhinderte, dass dieses Schauspiel vollständig erstarrte. Um die tosenden Kaskaden herum türmte sich jedoch gefrorene Gischt als glitzernder Eispanzer.
Die Seen lenkten fast von den einhundertzweiundneunzig Quadratkilometern ab, die sie umgaben. Aus knappen eintausend Metern Höhe zeigte sich der überwiegend dichte, teilweise urtümliche Wald aus kahlen Buchen und dunkelgrünen Kiefern abweisend. Er lag wie eine geschlossene weiße Decke unter ihnen, abgeschottet und undurchdringlich. Einhundertzweiundneunzig Quadratkilometer Spielwiese für die Bestie.
»Das wird nicht einfach.« Lena trug wie Eric extra dick gefütterte Schneetarnkleidung, Stiefel, Handschuhe und die passende Kappe dazu. In einem solchen Flugzeug gab es keine Heizung. Höchstens eine defekte.
Eric schwieg und nickte nur. Sich durch einen menschenleeren Nationalpark abseits der Wege zu schleichen, passte ihm nicht. Die Bestie befand sich dort klar im Vorteil.
Sie landeten, wie mit dem Piloten vereinbart, auf einem kleinen Flughafen, auf dem es weder Zoll noch irgendeine staatliche Behörde gab. Das kostete zwar sehr, sehr viel Geld, aber Eric konnte so ohne lästige Fragen die erbeuteten Waffen aus Budapest mitbringen.
Ihr Pilot empfahl ihnen die Pension seines Schwagers und gab ihnen noch ein Kärtchen mit, durch das sie beim Einchecken einen Rabatt von zehn Prozent bekämen. Eric bedankte sich – und bat den Taxifahrer, der sie wenig später fuhr, sie bei einer ganz anderen Unterkunft abzusetzen. Die Pension nahm er absichtlich nicht; dadurch wären sie zu leicht zu finden gewesen.
Das Hotel, in dem sie abstiegen, nannte sich Zur Erholung. Der Nationalpark war umzingelt von Hotels, Pensionen und anderen Unterkünften. Die kriegsgebeutelten Kroaten hatten rasch gelernt, wie man Geld mit der unverfälschten Natur ihrer Heimat verdienen konnte. Immerhin war sie so etwas wie ein Lichtblick in einem Land, durch das ein blutiger Bürgerkrieg getobt war, wie man ihn in Europa kaum noch für möglich gehalten hatte.
Lena betrat das Doppelzimmer zuerst. »Nett hier.« Sie warf sich auf das Bett. »Nicht ausgeleiert. Sehr gut.«
Eric lächelte sie flüchtig an und schaute auf seine Uhr. »Wir brechen gleich zu einer ersten Erkundungstour auf. Zu mehr wird es heute nicht mehr reichen.« Er packte den Rucksack und steckte außer dem Fernglas etwas Proviant hinein.
Sie beobachtete, wie er krampfhaft nicht in ihre Richtung schaute. Seine Distanz zu ihr war seit dem Morgen in Budapest immer größer geworden. »Hätten wir nicht miteinander schlafen sollen?«, fragte sie ihn direkt und ohne enttäuschten Unterton.
»Das ist es nicht.« Er ging zur Tür. »Kommen Sie?«
Lena nahm wortlos ihren Rucksack, in dem sich eine Tierarztausrüstung befand, und folgte ihm. Er würde ihr nicht verbieten können, dass sie Blutproben von dem Wesen nahm. Sie hatte heimlich einen befreundeten Wissenschaftler informiert, der das Blut für sie analysieren würde. Lena blieb trotz aller Ungeheuerlichkeit, und das im wahrsten Sinne des Wortes, Forscherin. Diese Gelegenheit würde sie sich nicht entgehen lassen. Eine Sache beschäftigte sie außerdem.
»Kann man diese … diese Werwesen nicht zurückverwandeln?«, fragte sie auf dem Flur unvermittelt.
Eric sperrte die Tür ab. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sprachen von einem Gegenmittel, oder? Die Bestien auszulöschen ist eine Variante. Aber wäre es, um den Mensch in ihr zu schonen, nicht besser, sie rückverwandeln zu können?«
Sie stiegen die Treppen hinab, betraten die Straße und folgten den Wegweisern zum Nationalpark. »Silber tötet sie. Gibt es vielleicht ein Metall, welches die Bestie aus ihnen vertreibt? Oder … was weiß ich … eine nichtletale Behandlung mit Silber?«
Eric setzte sich die Gletscherbrille auf. Das Weiß um sie herum glänzte im Schein der Sonne und blendete ihn unangenehm. »Mein Vater hat verschiedene Experimente gemacht. Er war der Wissenschaftler von uns beiden.« Seine Hände ballten sich zu Fäusten, was Lena nicht entging. »Alles, was er zusammenbraute, half nichts. Alte Rezepturen, eigene Rezepturen – ich war immer skeptisch, ob sie etwas taugen.
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