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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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seiner Linken vernahm. Ein einsamer Wolf sprach zum Mond und erhielt Antwort, die aus Richtung des Klosters herüberhallte.
    Es gibt fast keine Wölfe mehr in dieser Gegend, dachte Pierre – und erstarrte. Die Bestie? Er duckte sich sofort hinter einen Baum in Deckung, um auf der hellen Schneefläche nicht gesehen zu werden. Der Wind stand günstig für ihn und würde seinen Geruch nicht der Nase des Tiers zutragen.
    Er sah einen Schatten über die Wiese vor der Klosteranlage laufen. Mal rannte er auf allen vieren, mal richtete er sich auf die Hinterbeine auf und bewegte sich wie ein Mensch. Es gab keinen Zweifel, was er dort sah!
    Gütiger Gott im Himmel, soll es mir vergönnt sein, meinen Fluch selbst zu brechen?
    Pierre nahm die Muskete vom Rücken und machte sie mit wenigen Handgriffen schussbereit, zog die sperrigen Gleitschuhe von den Stiefeln und watete leise durch das knirschende Weiß dorthin, wo er die Bestie vermutete. Ehe er die Stelle erreichte, hörte er ein aufgeregtes Knurren und Bellen – und dann ein freudiges Winseln, das mit einem langen Heulen erwidert wurde.
    Vorsichtig schob sich Pierre vorwärts und spürte, wie die Angst in ihn schlüpfte, als er sich mit einem Schlag darüber klar wurde, es mit zwei Bestien zu tun zu haben.
    Antoine kann es nicht sein … oder? Und falls es doch so ist, wie erkenne ich ihn?
    Seine Muskete hatte wie die seines Vaters zwei Läufe, die für eine Bestie ausreichten, aber nicht für die doppelte Anzahl Gegner. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kugeln aus den Läufen zu fummeln, mehr Schwarzpulver einzufüllen und jeweils vier Geschosse zu laden. Danach bekreuzigte er sich und sandte ein rasches Gebet in den Himmel, Bitte, lass die Muskete diesen Druck überstehen, allmächtiger und gütiger Gott. Mach mich zu deinem Werkzeug gegen das Böse. Er ließ sich auf den Schnee nieder und robbte durch ein Gehölz, durch dessen schützende Äste und Zweige hindurch er erkannte, was sich auf der Lichtung tat.
    Die Bestien stürzten sich aufeinander, wälzten sich spielerisch knurrend und fauchend zwischen den Bäumen, drohten einander, sprangen vor und zurück, bis einer von ihnen, das Männchen offensichtlich, die Oberhand errang und die Verliererin zu Boden drückte. Er packte ihr Becken und zog es in die Höhe. Sie schnurrte voller Vorfreude und hob den Schweif, damit er in sie eindringen konnte, und bellte heiser auf, als er es tat und mit rhythmischen Stößen begann.
    Pierre sah angewidert zu, wie es die beiden Bestien miteinander trieben. Er schob die Muskete langsam aus seinem Versteck und visierte den Kopf des Weibchens an, das still hielt und sich dem Rausch der Kopulation hingab. Der ekelhafte Akt hatte wenigstens den Vorteil, dass er wusste, welche von den beiden Bestien mit Sicherheit sein Bruder war.
    Versunken in ihrer triebhaften Lust, in der Pierre nichts von dem edlen Gefühl wieder erkannte, das Florence und er teilten, wenn sie einander streichelten, bemerkten die Wesen den Beobachter nicht. Als er die Hähne der Muskete spannte und sie klickend einrasteten, war es jedoch mit der Heimlichkeit vorbei. Das Geräusch warnte das Männchen, und der hässliche Kopf mit den durchdringenden roten Augen richtete sich genau auf Pierres Versteck, dann stieß es sich ab und sprang nach hinten weg.
    Gott steh mir bei!
    Pierre schoss auf das Weibchen, das noch nicht begriffen hatte, in welcher Gefahr es sich befand und welchen Lohn es für die kurzen Momente der Lust zahlen sollte.
    Der Rückschlag der vierfachen Treibladung raubte Pierre den Atem, der Kolben wurde mit solcher Wucht nach hinten geschleudert, dass er ein leises Knacken zu hören glaubte und einen glühenden Schmerz in seinem Schulterblatt spürte. Gleichzeitig hörte er das Weibchen kreischen. Demnach hatte mindestens eine der Kugeln getroffen.
    Ich brauche Deckung. Pierre robbte rückwärts aus dem Busch, stand auf und lief auf den nächsten Baum zu, um sich auf dessen Äste vor der Rache des zweiten Loup-Garou in Sicherheit zu bringen.
    Bevor er die hohe Buche erreichte, stand die Bestie vor ihm.
    Sie sprang ihm in den Weg und stellte sich auf die Hinterbeine, wurde größer als er. Das Maul war geöffnet, sie fletschte die Zähne und zeigte den schwarzen Rachen, die glutroten Augen funkelten wie höllische Rubine, die Ohren lagen flach nach hinten am breiten Kopf. Deutlich erkannte Pierre das rötliche Fell und den charakteristischen Streifen. Er hob die Muskete.
    »Antoine!«, rief er,

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