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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Kleinstzüchtungen für das moderne Leben, damit das Tier in die Schublade unter die Socken passte. Er mochte keine Hunde. Und keine Katzen.
    Natürlich baten die Asiaten Lena unter tiefen Verbeugungen, ein gemeinsames Foto von ihrer Gruppe zu schießen. Eric nutzte die Gelegenheit, nahm sein elektronisches Fernglas hervor und betrachtete das Wasser, auf dem vier Elektroboote ihre Kreise zogen. Ein Druck genügte und das Glas schaltete auf Wärmebild um; er suchte den Waldrand ab.
    Etwas hatte den Hund beunruhigt. Er kläffte und ließ sich von seinem Besitzer nicht mehr beschwichtigen, verschmähte Leckerlis und Drohungen und wand sich stattdessen wie ein kurzer, haariger Aal in den Armen seines Herrchens. Dem Asiaten wurde die Aufsässigkeit zu bunt und ahndete den Zwergenaufstand mit einer brutalen Strafe: Er zückte eine schmale Pfeife, setzte sie an die Lippen und blies aus vollen Backen hinein.
    Lena hörte keinen Laut. Dafür hörte das Hündchen sofort auf zu zappeln, legte den winzigen Kopf in den Nacken und heulte wie ein Großer. Gleichzeitig ertönte ein wildes Jaulen aus dem Wald.
    Lenas Augen weiteten sich, die Nackenhaare richteten sich auf, und sie bekam eine Gänsehaut. Es war ein grässlicher, Furcht erregender Laut, der das Licht zu verdunkeln schien, die Wasserfälle übertönte, die Menschen schrumpfen ließ und die Seele bis in ihr Innerstes erschreckte. Ihr Zeigefinger drückte mehr aus Zufall ab und bannte die entsetzten Grimassen der Asiaten auf den Speicherchip der Kamera.
    Wie aus dem Nichts stand Eric neben dem Mann mit der Pfeife; auch sein Gesicht war blass. Er entriss ihm wütend das Utensil und schrie etwas in einer Sprache, die Lena nicht verstand. Dem Klang nach konnte es Japanisch sein. Der Zurechtgewiesene verbeugte sich schnell und mehrmals hintereinander, und die Gruppe zog rasch weiter, nicht ohne vorher den Fotoapparat zurückbekommen zu haben.
    »Was haben Sie zu ihm gesagt?«, wollte sie von Eric wissen.
    »Dass ich große Lust hätte, ihn wegen Tierquälerei anzuzeigen, und wie er es wagen könne, in einem Naturschutzpark voller wilder Kreaturen eine Hundepfeife einzusetzen.« Er machte ein sehr, sehr übellauniges Gesicht. »Blöder Wichser. Ich halte ihm ja auch nicht eine Druckluftfanfare ans Ohr und tröte los.« Wütend warf er die Pfeife in den Schnee und setzte das Fernglas an die Augen.
    Lena bückte sich und barg den kleinen silbernen Gegenstand unbemerkt von ihm aus dem Weiß. »Dieses Heulen … war das die Bestie?«
    »Anzunehmen«, meinte er angespannt. Da! Plötzlich zeigte ihm die Wärmebildoption tatsächlich einen wolfsgroßen Umriss, der sich schwach rot von dem Blau des Umfelds abhob. Eric wartete. Es konnte sich dabei möglicherweise um den Späher eines Rudels handeln. Um einen ganz normalen Wolf.
    Der rote Umriss blieb allein und völlig reglos. Eric wechselte in den normalen Sichtmodus und überprüfte den fraglichen Ort, ohne Anzeichen für andere Wölfe im Unterholz entdecken zu können. Nichts.
    Er schaltete wieder auf Wärmebild und musste feststellen, dass der vage rote Umriss verschwunden war. Als wäre er nie da gewesen. Ihr Feind hatte sie aus sicherer Entfernung beobachtet, sie neugierig studiert und sich dann wieder ins Gebüsch geschlagen. Die Bestie war hier.
    Und vorgewarnt.
    »Gehen wir.« Er gab das Zeichen zum Aufbruch und verzichtete darauf, Lena von seiner Entdeckung zu berichten. »Wir werden morgen zeitig hier sein und die Jagd eröffnen.« Er stapfte los.
    Die Frau blieb stehen und schaute über die malerische Landschaft, in der sich das Böse versteckt hielt. Das, was ihr bisher zugestoßen war, erschien ihr noch immer unwirklich, dennoch ließ es sich nicht leugnen. Die Wunde auf ihrem Rücken erinnerte sie ständig daran. Seit sie sich in Kroatien befanden, brannte der Schnitt besonders unangenehm. Über ein Mittel gegen Lykantrophie zu verfügen, wäre nicht das Schlechteste.

XXI.
KAPITEL
    31. Dezember 1765, in der Umgebung von Auvers,
Kloster Saint Grégoire
     
    Natürlich barg es eine Gefahr, allein durch die winterkalten Nachmittagsstunden zu wandern und zum Kloster zu gehen. Außerdem hatte er seinem Vater versprochen, im Keller von Antoines Hütte zu bleiben. Doch die Sehnsucht nach Florence, ihrem süßen Mund und ihrem zarten Leib, war stärker als jede Vernunft und jedes Gelöbnis. Und jede weltliche Kette, deren Schloss an diesem Tag durch eine glückliche Fügung nicht eingerastet war. Ein Wink des

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