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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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Augen an und klammerte sich abrupt an sie. »Gott sei Dank! Es war nur ein Traum!« Florence weinte hemmungslos, vor Verzweiflung und Erleichterung gleichermaßen. »Ein Traum, ein schrecklicher Traum.«
    »Ja. Nur ein Traum.« Gregoria drückte sie an sich, streichelte beruhigend ihren Schopf und begann, ein leises Schlaflied zu singen. Für die grausame Wahrheit und den mysteriösen Brief ihrer Mutter blieb noch Zeit bis morgen.
     
    Jean schlug das Tor der Scheune von innen zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Seine Brust hob und senkte sich rasch, denn das unentwegte Laufen mit schwerer Last hatte ihn angestrengt. Zu seinen Füßen kauerte Antoine, neben ihm lag die Muskete.
    »Monsieur Chastel, das war knapp, sofern ich mir die Bemerkung erlauben darf«, keuchte Malesky, der sich ins Stroh hatte sinken lassen. Hinter ihm und halb unter den Halmen verborgen ruhte Pierre, den der Moldawier der Einfachheit halber ins weiche Lager geworfen hatte, anstatt ihn behutsam von seinen Schultern auf den Scheunenboden gleiten zu lassen. »Damit habe ich mir meinen Wein für den Abend redlich verdient.«
    »Das habt Ihr wahrlich, Monsieur«, gab Jean schwach grinsend zur Antwort, nahm einen tiefen Atemzug und schleppte Pierre zur Luke, die nach unten in den Keller führte, aus dem er und sein Bruder ausgebrochen waren. Die schweren Bohlen, die als Abdeckung gedient hatten, lagen in Trümmern herum; Pierre und Antoine hatten sich mit den gewaltigen Kräften ihrer Bestiengestalt einen Weg nach draußen geschaffen. Sie wurden immer stärker.
    »Wir werden uns etwas Besseres einfallen lassen müssen«, vermutete Malesky mit Blick auf die zerstörten Holzbretter. »Ein Eisengitter vielleicht. Und bessere Fesseln.«
    »Etwas in der Art«, gab Jean zurück, schaffte Pierre mit Maleskys Hilfe nach unten und kettete ihn an die Wand. Anschließend taten sie das Gleiche mit Antoine.
    Die Ketten waren bislang ausschließlich in den Vollmondnächten notwendig gewesen, da die Macht des großen Nachtgestirns seine Söhne unwiderstehlich zwang, die Form der Bestie anzunehmen, und ihren Hass und ihre Kräfte vervielfachte. Dann konnte man sich ihnen nicht nähern. Jean und Malesky hatten das wütende Toben und heisere Bellen gehört, das Klirren des Eisens, das aus dem Gemäuer drang. Einmal hatte es der Wildhüter aus Sorge um seine Söhne gewagt, in einer solchen Nacht die Stufen in die Katakombe hinabzusteigen, und sich seinem bereits verwandelten Sohn Antoine gegenüber gefunden. Es war schrecklich gewesen. Der flüchtige Anblick der auf zwei Beinen stehenden Bestie mit den schrecklichen roten Augen, denen jede Menschlichkeit fehlte, dem schäumenden Maul mit dem schwarzen Rachen, den entblößten Reißzähnen und den schlagenden langen Klauen, die ihn allein wegen der Ketten nicht aufschlitzten, hatte ausgereicht, um ihn in Panik flüchten zu lassen.
    Malesky bestätige ihm, dass die Furcht auch dann nicht leicht zu besiegen war, wenn man einer solchen Bestie mehrmals gegenübergestanden hatte. Und bei Jean kam erschwerend die Verzweiflung hinzu, die aus dem Wissen geboren wurde, dass es sich bei den heulenden Bestien um seine eigenen Söhne handelte.
    Jean untersuchte Antoine, dessen Blessuren im Gesicht bereits verheilten. Die Kratzer und Blutergüsse verschwanden wie durch ein Wunder – allerdings kein Wunder des christlichen Gottes. Als er die Wunde am Oberarm entdeckte, stutzte er. Die Ränder des Schnittes hatten sich schwarz gefärbt, als sei er verbrannt worden, und das Fleisch sah aus wie abgestorben.
    »Monsieur Malesky?«, rief er den Moldawier zu sich, der sein Pincenez aufzog und die Verletzung mit wissenschaftlichem Interesse untersuchte.
    »Er wurde mit Silber verletzt«, lautete sein Urteil. »Eine sehr schmale Wunde. Es kann kein herkömmliches Messer oder ein Dolch gewesen sein.«
    »Es war Florence«, stöhnte Pierre, der den Kopf gehoben hatte und dabei war, sein Bewusstsein wiederzuerlangen. Wegen des Blutverlusts war er aber noch zu schwach und konnte nicht aufstehen. »Wir sind ihr bei der Leiche des Jungen begegnet, und sie hatte ein Stilett dabei, mit dem sie sich gegen uns verteidigte.«
    Malesky hob die Augenbrauen. »Sie hat Euch auch getroffen, Monsieur?«, erkundigte er sich erstaunt, und Pierre nickte. »Das kann nicht sein, Ihr irrt Euch. Die Schnitte sehen aus wie …« Er brach mitten im Satz ab, sprang auf, kniete sich neben ihn und inspizierte die von ihm gesäuberten Verletzungen ein weiteres

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