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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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besteht die Gefahr, dass sie vom Glauben abfallen, weil sie in der Bestie den Boten des Teufels sehen, der größere Macht habe als Gott, da die Kreatur nicht besiegt werden kann. Nicht zuletzt ist sie eine ständige Gefahr für die Pilger, die auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela wandern. Sollte Euch trotz aller Berichte noch nichts von der Bestie zu Ohren gekommen sein, Heiliger Vater, und Ihr den betreffenden Mann deshalb nicht ins Gevaudan geschickt haben, bitte ich Euch inständig, den Menschen in dieser finsteren Zeit ein Zeichen des Lichts zu senden durch Euer Wort.
    Gregoria unterzeichnete den Brief, faltete ihn in einen Umschlag, versah diesen mit Anschrift und Siegel und legte ihn vor sich auf den Schreibtisch.
    Sie betrachtete ihn abwägend.
    Je mehr sie darüber nachdachte, desto schlechter kam ihr dieser Einfall vor, den sie in ihrem religiösen Eifer beinahe in die Tat umgesetzt hätte. Eine Sache musste zuvor geklärt werden, und das würde durch die Anwesenheit eines päpstlichen Agenten schwieriger, als es ohnehin schon war. Auch wenn sie Jean Chastel dafür eingespannt hatte, ohne dass er etwas davon ahnte.
    Nein, ich werde ihn nicht abschicken. Sie schob den Umschlag an den äußersten Rand der Arbeitsplatte neben den Brief, der Florence gehörte, wo er wie verstoßen lag und darauf wartete, eines Tages von ihr zurückgeholt zu werden. Noch nicht.
    Gregoria hörte, wie sich hastige Schritte der Tür des Arbeitszimmers näherten, dann wurde der Eingang ohne vorheriges Klopfen aufgerissen und eine aufgelöste Ordensschwester stürmte, wild mit den Händen gestikulierend, in den Raum. »Kommt rasch, ehrwürdige Äbtissin! Florence!«
    Sie sprang auf. »Florence? Was ist mit ihr?«
    »Sie war spazieren, und da ist ihr die Bestie begegnet!«, rief die blasse Frau und wandte sich zum Gehen.
    Wie konnte sie aus ihrem verschlossenen Zimmer entkommen?, fragte sich Gregoria und folgte der Frau, die sie zur Pforte des Klosters führte, wo sie ihr Mündel auf eine Bank gelegt hatten. Florences Kleider bestanden nur aus ein paar Fetzen, man hatte ihre Blöße mit einem Laken bedeckt.
    »Heilige Mutter Gottes!« Gregoria setzte sich neben sie und studierte angespannt das abwesende Gesicht. Florences Augen blickten durch sie hindurch und fixierten nichts, starrten in die Unendlichkeit; ihr ganzer Leib zitterte, als habe sie Schüttelfrost, und ihre armseligen Kleidungsreste strotzten vor Schmutz und Blut.
    Erleichtert stellte die Äbtissin nach einer raschen Untersuchung fest, dass ihr Mündel keine sichtbaren Verletzungen davongetragen hatte. Abgesehen von ein paar Schrammen und Kratzern, die von Stürzen und Dornen herrührten, fehlte ihr körperlich nichts. Aber ihr Geist hatte gelitten.
    »Das arme Kind musste mit ansehen, wie die Bestie ein neues Opfer zerfleischte«, berichtete eine der Nonnen im Flüsterton. »Die Menschen haben sie gesehen und sind sofort auf die Suche nach der Bestie gegangen. Sie haben am Montchauvet einen kleinen Jungen gefunden. Er hieß Jean Bergougnoux und war neun Jahre alt, und sie konnten ihn nur anhand seiner Kleider erkennen. Sein Gesicht und seine …«
    »Sei still! Du redest wie ein geschwätziges Waschweib.« Gregoria wollte nichts davon hören, es hatte schon zu viele Geschichten dieser Art gegeben. »Bringt heißes Wasser«, befahl sie einer Novizin. »Wir tragen sie hinauf auf ihr Zimmer.«
    Sechs Schwestern trugen Florence mitsamt der Bank hinüber ins Haus der Klostervorsteherin und hinauf in ihr Zimmer.
    Gregoria nahm den Schlüsselbund vom Gürtel, steckte den Schlüssel in das Schloss der massiven Tür und stellte fest, dass es unverschlossen war. Das hätte nicht sein dürfen. Eine unverzeihliche Nachlässigkeit ihrerseits! »Rasch, legt sie auf das Bett«, befahl sie und schickte die Nonnen anschließend hinaus und in die Kirche, um für die Genesung der jungen Frau zu beten.
    Sie entkleidete Florence vollkommen, wusch sie behutsam ab und achtete unentwegt darauf, ob ihr Mündel durch eine kleine Regung zu verstehen gab, dass sich ihr Geist von dem Schrecken des Zusammentreffens mit der gefürchteten Kreatur und dem Anblick des toten Kindes erholt hatte. Dabei murmelte sie ohne Unterbrechung Gebete – und war sich nicht sicher, ob sie dies zum Schutz des Mädchens tat oder zu ihrem eigenen.
    Als sie schließlich die Decke über Florence legte und ihr das braune Haar ausbürsten wollte, schreckte die junge Frau zusammen, schaute sie mit Grausen in den

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