Ritus
Schultern ausgestattet. Das machte es immerhin leichter, einen neuen Träger für die schönen Sachen zu finden. Gregoria legte die Kleider zusammen – und bemerkte beim Falten des Rocks, dass etwas unter dem Innenfutter knisterte. Eine geheime Geldtasche, die uns vielleicht noch einige Livres in die Almosenkasse bringt?
Gregoria suchte die verborgene Naht, fand sie in Höhe des Saums und trennte sie vorsichtig auf. Nach kurzem Suchen fischte sie einen Umschlag aus Wachspapier heraus, in dem wiederum ein Stück Papier eingeschlagen lag.
Das Signum unter den auf Lateinisch verfassten Zeilen erkannte sie sofort. Das Siegel des Heiligen Vaters! Sie setzte sich verblüfft und las, was dort geschrieben stand.
Den katholischen Bischöfen Frankreichs,
der Besitzer dieses Briefes handelt zum Wohle der heiligen Katholischen Kirche und mit der besonderen Gnade Gottes. Ihm sind ohne weitergehende Befragung auf Wunsch Unterkunft auf unbegrenzte Dauer, Kleidung, Schuhwerk und ein Salär von 100 Livres ohne Verzug zur Verfügung zu stellen.
Niemand darf von dem Besitzer dieses Briefes erfahren, alle Hilfeleistungen sind geheim und ohne Aufsehen zu gewähren. Nicht ein Wort ist über ihn zu verlieren, weder in der Öffentlichkeit, noch gegenüber anderen Vertretern der heiligen Katholischen Kirche. Eine Missachtung dieser Anweisung wird nicht akzeptiert und hat schwer wiegende Folgen für denjenigen, der es dennoch wagte.
Klemens XIII.
Bischof von Rom, Stellvertreter Jesu Christi,
Servus Servorum Dei et Pontifex Maximus
Gregoria ließ den Zettel sinken. Was hat das zu bedeuten? Sie hatte keine Ahnung, in welcher Mission der Mann unterwegs gewesen war, und selbst als sie die Kleider ein zweites Mal untersuchte, noch genauer diesmal, fand sich nichts mehr, was auf seine Identität schließen ließ.
Ein Jesuit vielleicht? Es würde Sinn ergeben. Der Heilige Vater galt als Freund der Gesellschaft Jesu, wie sie sich nannten. Erst im Januar des letzten Jahres hatte er den Jesuitenorden feierlich mit der Apostolicum pascendi munus bestätigt. Gregoria erinnerte sich, dass es deswegen Protest aus Frankreich und Spanien gegeben hatte. Die papstergebenen Jesuiten wurden verschiedener Verschwörungen verdächtigt, weswegen viele europäischen Machthaber, so auch der französische König, die Auflösung des Ordens verlangten. In diesen stürmischen Zeiten reiste ein Mitglied der Gesellschaft in geheimer Mission durch Frankreich? In ein Gebiet, in dem die Kamisarden, die Hugenotten, allerorten anzutreffen waren?
Gregoria versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Gründe für den Aufenthalt des Mannes gab es viele: Von Ermittlungen gegen die Kamisarden, gegen Geistliche wegen ausschweifenden Lebenswandels oder Abkehr von der christlichen Lehre bis hin zur geplanten Unruhestifterei gegen den französischen König, der mit seinem absolutistischen und vor allem selbstherrlich-lasterhaften Regime zwangsläufig den Unmut eines wahren Christen auf sich zog.
Oder war der Mann vom Heiligen Vater wegen der Bestie ins Gevaudan gesandt worden?
Zu viele Rätsel für einem Tag! Gregoria gab es auf, darüber nachzudenken. Stattdessen entschied sie, dass Rom vom ungewissen Schicksal des vermeintlichen Agenten erfahren musste. Sie machte sich auf den Weg in ihr Arbeitszimmer.
Zuerst wollte sie an den Bischof schreiben, dann überlegte sie es sich anders. Wenn es sich um einen päpstlichen Gesandten handelte, sollte der Heilige Vater den Brief ohne Umschweife erhalten. Im Schreiben stand ausdrücklich, dass die Existenz des Mannes geheim bleiben sollte. Man wollte nicht, dass zu viele Menschen von ihm erfuhren.
Es bot ihr zudem eine gute Gelegenheit, den Heiligen Stuhl auf die nicht Enden wollenden Vorkommnisse in der Region aufmerksam zu machen, um entweder einen neuen Beobachter zu senden oder andere Maßnahmen einzuleiten. Ich werde schildern, welches Leid den Menschen durch die Kreatur zugefügt wird.
Es war ein kühner Plan. Sie, eine einfache Äbtissin, schrieb an den Stellvertreter Gottes auf Erden. So etwas war unter normalen Umständen undenkbar! Aber wann waren die Umstände im Gevaudan das letzte Mal normal?, fragte sich Gregoria. Bis zum Abend saß sie an dem Schreiben und formulierte ständig neu, bis sie mit ihren Sätzen zufrieden war. Immer wieder ließ sie einfließen, dass manche zwar durch Furcht zum Glauben zurückkehrten, aber Furcht nicht allein der Ansporn sein dürfe, um zum Herrn zu beten. Bei anderen, so schrieb sie,
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