Ritus
tausendmal dafür entschuldigt, ihr Angst gemacht zu haben. Antoine war sie seitdem nie mehr begegnet, und das erleichterte sie maßlos.
»Ich hole uns etwas Wasser.« Florence nahm den Kessel und ging zum Brunnen, der nicht weit von dem Stand entfernt war.
Es war kalt geworden. Auf den Bergesspitzen zeichnete sich erster Schnee ab, der Wind trieb die Kälte in die Wälder. Der Winter begann im Gevaudan stets früher. Noch ein Grund, diesen verfluchten Landstrich des Königreichs zu verlassen.
Sie bediente die quietschende Pumpe und keuchte vor Anstrengung. Klares, eisiges Wasser schoss glucksend in den Kessel. Sie schaute zu und fragte sich dabei, wie es sich wohl im Norden lebte. Oder an der lieblichen Loire, wo ein Schlösschen neben dem anderen stand. Dort würde sie gerne leben, unterrichten und das Zusammensein mit Pierre genießen.
Der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft warf auch einen Schatten. Denn ein Geheimnis hatte Florence vorerst für sich behalten, auch wenn sie genau wusste, dass sie sich ihrem Geliebten früher oder später würde offenbaren müssen. Seit sie vom Kind zur Frau geworden war, litt sie an starken Blutungen und Unterleibsschmerzen, die sich manchmal in fürchterliche Wahnanfälle steigerten. Sie kamen und gingen, und Gregoria tat alles, um sie davor zu schützen, sich in ihrer Raserei etwas anzutun. Ihre Mittel linderten die Schmerzen und hüllten die Tage, an denen sie besonders geplagt wurde, in angenehme Benommenheit. Trotzdem erschrak sie noch immer, wenn sie erwachte und sie so viel Blut an sich fand. Ihr eigenes Blut.
Sie kehrte mit dem halb vollen Kessel an den Stand zurück, vor dem sich die ersten Käufer einfanden. Daneben entzündete sie ein Feuer und stellte den Kessel hinein, um das Wasser zum Kochen zu bringen und einen Kräutertee zuzubereiten. Das Getränk würde gegen die allgegenwärtige Kälte helfen.
Florence richtete sich auf, und in ihrem Kleid neben ihrer linken Brust knisterte es verlockend. Es war der Brief, den ihr die Äbtissin gegeben hatte und den sie immer bei sich trug. »Ein Lebenszeichen von deiner Mutter«, hatte Gregoria gesagt, und ihr Gesichtsausdruck ließ keine Deutung zu, ob sie sich darüber freute oder nicht.
Florence wagte es nicht, den Umschlag zu öffnen und die Zeilen zu lesen, da sie schon lange mit ihrer Herkunft abgeschlossen hatte. Ihre Familie war Saint Grégoire. Und doch pochte die Neugier immer wieder bei ihr an und drängte sie, einen Blick auf den Inhalt zu werfen. Nur einen Blick … Ihre Linke fuhr unter ihren Mantel, tastete nach dem Papier.
Eine Reiterschar sprengte husarengleich ins Dorf, und die ungestüme Ankunft verhinderte, dass Florence den Umschlag ergriff. An der Spitze der Neuankömmlinge befand sich eine Gestalt, die alle Menschen in dieser Gegend kannten: der junge Marquis Jean-Joseph d’Apcher.
Die Gruppe hielt auf den Stand der Nonnen zu, ihr Anführer zügelte seinen Fuchshengst und zog seinen Hut. »Bonjour.« Er trug für einen Marquis beinahe schlicht zu nennende Kleidung in Braun- und Grüntönen, das hellbraune Haar fiel lang auf die Schultern und gab ihm etwas Verwegenes. Über seiner Schulter trug er eine Muskete, die Flanken seines Pferdes glänzten vor Schweiß.
Er stieg ab, und seine Begleiter taten es ihm nach. »Hättet Ihr wohl einen Schluck heißen Tee für mich?« Er lächelte Florence an.
Sie konnte nicht anders, als den Mann, der kaum älter war als sie, für seinen unermüdlichen Einsatz zu bewundern, und erwiderte das Lächeln. »Aber sicher, Monsieur le Marquis.« Sofort erschien Schwester Rogata neben ihnen und reichte Tonschalen, in die Florence die heiße Flüssigkeit füllte. Rogata war der verlängerte Arm der Äbtissin, die Aufseherin bei jedem Ausflug. Florence nannte sie heimlich die Auflage.
Als sie dem Marquis den Tee gab und sie ihm ins Gesicht sah, bemerkte sie, dass er sie eindringlich musterte. Sie kannte diesen Blick bei Männern. »Hattet Ihr Erfolg, Monsieur le Marquis?«, lenkte sie ab. »Ihr und Euer Gefolge seht aus, als hättet Ihr bereits lange im Sattel gesessen.«
Er nahm die Schale und nippte daran. Wohlig seufzte er. »Das tut gut, Mademoiselle. Im Wind steckt schon der Winter und beißt kräftig in die Haut.« Er ließ sich den Dampf ins Gesicht wehen. »Wir sind schon lange unterwegs«, antwortete er ihr dann. »Keine Spur von der verfluchten Bestie. Zu viele Schluchten, zu viele dichte Wälder rund um den Montmouchet. Ich würde sie am liebsten
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