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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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sehnen. Gregoria, vielleicht ist es ein Gottesgeschenk! Willst du wirklich, das wir es verleugnen?«
    »Es ist die Lust des Fleisches«, widersprach sie, erhob sich und wandte ihm den Rücken zu, um aus dem Fenster zu schauen. »Geh nun und bring deinem Sohn die Medizin. Er braucht sie.«
    Gregoria hörte, wie er zum Ausgang schritt, die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Treppenstufen ächzten, eine weitere Tür fiel ins Schloss, dann sah sie ihn über den Hof, vorbei am Gäste- und Arbeitshaus, auf das Tor zugehen. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um.
    Sie blickte ihm nach, bis er durch die Pforte gegangen war, dann schaute sie nach den Wunden an der Hand, die von den spitzen Enden des Kruzifix stammten: Ihr Blut hatte den silbernen Heiland daran rot getüncht.
    Was geht mit mir vor? Was soll ich bloß tun?
    Gregoria umfasste das Kreuz ein weiteres Mal und presste die Finger noch stärker zusammen, bis ihr das Blut am Unterarm herablief.
    Es klopfte an ihrer Tür.
    »Einen Augenblick.« Sie presste ein Tuch in die Hand, um die Blutung zu stillen. »Herein.«
    Eine Nonne betrat das Zimmer, einen Stapel Bücher auf dem Arm. Sie sah das Blut und erbleichte.
    »Es ist nichts, Schwester Magdalena. Ich habe mich geschnitten«, log Gregoria. »Was bringst du mir?«
    Sie legte die Bücher auf den Tisch. »Die Zahlen der Näherei, ehrwürdige Äbtissin. Wir haben im ersten Halbjahr gut gearbeitet.«
    Gregoria blätterte mit der unverletzten Hand im ersten Band und überflog die Zahlen, ohne sie wirklich zu erfassen. Dafür war sie zu aufgewühlt. Sehr menschliche Regungen und Gefühle rüttelten an den Grundfesten ihres Glaubens und ihrem Eid vor Gott. Dabei hatte sie sich stets für so stark gehalten.
    »Habt Ihr schon Antwort aus Rom auf Euer Schreiben erhalten?«, fragte die Nonne plötzlich leise.
    »Aus Rom?«
    »Ja, Euer Brief, wisst Ihr nicht mehr? Der auf Eurem Schreibtisch.« Schwester Magdalena wurde verlegen. »Verzeiht mir, dass ich ihn erst so spät absandte, aber ich entdeckte ihn lediglich durch eine Fügung unter den Wirtschaftsbüchern, ehrwürdige Äbtissin. Verzeiht mir das Versäumnis, nicht gründlicher nachgeschaut zu haben. Habe ich unserer Gemeinschaft mit meiner Nachlässigkeit Schaden zugefügt?«
    Ein Eisschauer zog durch Gregorias Körper. Sie hatte diesen Brief, den sie vor einem halben Jahr geschrieben hatte, vollkommen vergessen. Eigentlich wollte sie ihn nicht vor dem Tod der Bestie abschicken, damit ihr genügend Zeit vor dem Eintreffen der unvermeidlichen päpstlichen Gesandten blieb, um ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. »Es ist nicht schlimm«, zwang sie sich zu sagen. »Es war nichts Wichtiges, nur eine Unterrichtung. Wann hast du ihn abgeschickt?«
    »Vor einem Monat, ehrwürdige Äbtissin.«
    Ein Monat! Angst stieg in Gregoria auf. Der Brief war also schon lange beim Heiligen Vater angekommen. Warum hatte man ihr nicht zurückgeschrieben?
    Sie kannte die beunruhigende Antwort: Mit Sicherheit hatte der Papst einen neuen geheimen Vertrauten in die Region geschickt. Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster, als könnte sie den Mann inmitten jenes Pulks von Jakobspilgern erkennen, die sich gerade im Hof aufhielten, und von seinen Zügen ablesen, mit welchem Auftrag er unterwegs war.
    Ihr eigenes Ziel geriet damit in große Gefahr.
     
    Florence war froh darüber, die Nonnen nach Auvers begleitet zu haben. Die Äbtissin ließ sie so gut wie nie mehr aus den Augen und schränkte ihre Freiheit nahezu vollkommen ein. Der Besuch des Dorfs, der dem Verkauf von Klostererzeugnissen diente, war eine Ausnahme. Eine Ausnahme mit strengen Auflagen.
    »Florence, richtest du das bitte?«, bat Schwester Martha und deutete auf das dicke Knäuel gesponnener Wolle, das umgefallen war und von der grob geschliffenen Tischplatte zu rollen drohte.
    »Sofort.« Florence eilte heran und bewahrte die Wolle davor, im Dreck zu landen. Sie hob den Kopf und schaute die Straße hinauf. Die Menschen kamen, um zu schauen, zu handeln und zu reden.
    Sie hoffte, ihn heute wieder zu sehen. Pierre. Sie hatte sich mit ihm ausgesprochen, nachdem sie sich von dem schrecklichen Erlebnis am Montchauvet erholt hatte. Es tat ihr unendlich Leid, dass sie ihn mit dem Stilett verletzt hatte. Sie konnte es sich lediglich durch ihre maßlose Angst erklären. Jetzt, wo sie von dem Fieber ihres Geliebten wusste, erklärte sich Pierres abwesender Gesichtsausdruck von damals. Er hatte ihr die Stiche verziehen und sich

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