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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sondern auch O’Kane hineinzog. Wenn die Armeen vorstießen oder den Rückzug antraten, radierte er sorgfältig seine Figuren und Symbole aus, verschob die Linien nach vorn oder hinten und zeichnete dann alles wieder neu ein. Die Offensive von Amiens analysierte er in sämtlichen Details, und nie war er klarer und artikulierter gewesen, nicht seit seinen Tagen im McLean, als er noch Golf gespielt hatte, und als die Zeitungen im September den amerikanischen Sieg bei St. Mihiel meldeten, paradierte er stundenlang durch den oberen Salon, schüttelte die Fäuste und gab beängstigende Imitationen vom Heulen und Krachen eines Bombardements von sich, während der kleine Doktor ihm ohne jeden Ausdruck in seinem narbigen Gesicht dabei zusah.
    Katherine kehrte im Dezember 1917 über die Feiertage zurück, und damit kam die Sache mit der Narbe wieder aufs Tapet. Wegen ihrer Aufgaben im Verteidigungsausschuß kam sie erst spät, traf gerade zwei Tage vor Weihnachten in Kalifornien ein. Sie wirkte müde und abgekämpft, und als sie im Theatergebäude unter einem kolossalen Kranz aus Stechpalmen- und Mistelzweigen Geschenke an die Angestellten verteilte, sah sie alt aus. Jedenfalls älter . O’Kane beobachtete sie – sie war immer damenhaft, immer perfekt, aus dem klarsten und kältesten Eis geschnitzt – und versuchte, ihr Alter zu schätzen. Sie mußte jetzt, was, einundvierzig sein? Oder zweiundvierzig? Aber zum erstenmal zeigte sich das jetzt auch – nichts Weltbewegendes; eine alte Vettel war sie noch lange nicht, aber zu sehen war es doch. Ihre Kleider waren so prächtig wie immer, aber es war die Mode von gestern, der schwere Faltenwurf der Suffragette und der Matrone, kein Vergleich mit den sparsamen Satinkleidchen einer Dolores Isringhausen oder dem wandelnden Glanz einer Giovannella. Sie wurde alt, aber so erging es jedermann, sogar dem Glückspilz Eddie O’Kane, der im März sechsunddreißig werden würde. Und er spürte es schmerzhaft, als er zu ihr herantrat und sie ihm die Hand drückte, ihm seinen Briefumschlag und ein Lächeln schenkte, das nichts zu bedeuten hatte, weder Ja noch Nein, und er wünschte sich beinahe, sie würde wieder mit der Peitsche knallen, damit sie alle wieder von vorn anfangen könnten, voll neuer Hoffnung.
    Am nächsten Tag jedenfalls, am Heiligabend, kam sie früh nach Riven Rock, mit Stapeln von Geschenken und Kuchen beladen, und rief ihren Mann vom Erdgeschoß aus an, um mit ihm zu plaudern und ihm frohe Weihnachten zu wünschen. O’Kane spielte gerade Domino mit Mart, als das Telephon klingelte und Dr. Hoch den Hörer abnahm. »Für Sie, Mr. McCormick«, sagte er, und seine Augen waren naß und groß. »Es ist Ihre Frau.«
    Mr. McCormick brauchte eine geschlagene Minute, bis er genug Dampf hatte, um durchs Zimmer zu dem Arzt zu gehen, der ihm das Telephon entgegenhielt, und als er sich doch in Bewegung setzte, verfiel er in seine alte Zwei-Schritte-vor-und-einen-zurück-Technik, ließ die Schultern hängen und zog ein langes Gesicht, sein rechtes Bein war plötzlich lahm geworden und schleifte hinter ihm her wie in einem Verwundeten-Tango. Als er den Apparat endlich erreichte, den Hörer zum Ohr hob und sich zum Mundstück hinabbeugte, da hatte er nicht viel mehr zu sagen als ein feuchtes, halb verschlucktes Hallo. Das Reden schien gänzlich sie zu übernehmen. Zunächst jedenfalls.
    Dr. Hoch ließ sich in diskreter Entfernung bequem in einem Sessel nieder, und O’Kane und Mart setzten ihr Spiel fort, doch alle drei hörten sie zu, natürlich taten sie das – wenn nicht aus therapeutischen Gründen, dann aus reiner Neugier; und außerdem, um ein wenn auch noch so kleines Loch in das engmaschige Netz ihrer Langeweile zu reißen.
    Nachdem das Gespräch fünf Minuten gedauert hatte, ertönte plötzlich Mr. McCormicks Stimme mit einem froschartigen Quaken. »Hast du Dr. HochsNarbe gesehen?«
    Es folgte eine Pause, in der sie antwortete, und wenn O’Kane sich anstrengte, durch das Knacken des Feuers und die übrigen Geräusche des Hauses zu horchen, nahm er das allerleiseste Wispern am anderen Ende der Leitung wahr, und das war komisch – sie hätte ebensogut auf der anderen Seite der Welt sein können, so leise klang ihre Stimme, dabei stand sie nur eine Etage weiter unten. Auch für Mr. McCormick mußte das seltsam sein, denn er wußte so gut wie jeder andere, wo sie war. Andererseits war er wohl daran gewöhnt, dachte O’Kane. Sicher. Aber sich an so etwas zu gewöhnen –

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