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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gegangen waren.
    Aber das Weinen hatte wenig Sinn – Stanley war zuviel für sie, ein zu großes Heilungsprojekt, das wurde ihr jetzt klar, und seine ganze Person, die Vision, die sie von ihm gehabt hatte, lag in Scherben auf dem Boden des Salons. Sie mußte fort, das wußte sie, aber es würde ihr nicht leichtfallen. Denn auch wenn sie traurig war und darum kämpfte, sich gegen ihn und das Leben, das sie sich mit ihm erhofft hatte, zu stählen, mußte sie doch immer wieder daran denken, wie er in den Klauen seiner Mutter steckte, gepackt von Nettie dem Vampir, die ihn aussaugen würde, bis er als verschrumpelte, altersschwache, weißhaarige leere Hülle am Fuß ihres Totenbetts saß, auf dem sich der Staub wie Schneewehen türmte. Katherine konnte nicht zulassen, daß sie Stanley das antat – kein Mann verdiente solch ein Schicksal –, und überhaupt konnte sie nicht einfach fortgehen und Nettie das Feld überlassen. Sie war eine Dexter, und die Dexters gaben niemals auf.
    Schlagartig stand sie auf und scheuchte das Personal herum, bückte sich über die Koffer und Schachteln und begann in einem wütenden Wirbelwind, alles wieder auszupacken: jedes Kleid, jeder Rock, jede Bluse kam zurück auf den Bügel und verminderte so das Gepäck, doch damit war sie auch nicht zufrieden, und bald spürte sie, daß ihre Bewegungen immer langsamer wurden, bis sich der Vorgang wieder umkehrte und sie die Koffer von neuem packte. Und warum? Weil sie in die Schweiz fuhr, nach Genf, nach Prangins, und dort würde sie bleiben, bis ihr alles klar war, bis sie in den Spiegel sehen und zu sich sagen konnte, daß nichts auf der Welt schöner war als Mrs. Stanley Robert McCormick zu sein. Und wenn sie das nicht konnte? Wenn sie es aufrichtig nicht konnte? Nun, dann gab es immer noch Butler Ames – oder die Butler Ames, die auf diesen folgen würden.
    Die Schatten an der Wand wurden länger, und im Haus hatte sich eine bodenlose Stille ausgebreitet, als Bridget den Kopf zur Tür hereinsteckte. Ob Madame Hilfe brauche? Katherine blickte auf. Überall lagen Kleider, ganze Lawinen davon, dazu Hüte, Mäntel, Halstücher, Schuhe. »Ja«, sagte sie, »ja«, und als es Nacht wurde, herrschte wieder Ordnung: alles war gepackt, sortiert und organisiert, ihre Überfahrt auf einem Dampfschiff nach Cherbourg in drei Tagen fest gebucht.
    Wie Stanley davon Wind bekam, sollte sie nie erfahren. Aber als die Gangway bereits hochgezogen und der Anker gelichtet war, als ihre Mutter und die Dienstboten inmitten der Abschiedsgäste feierlich in bedächtigem, traurigem Rhythmus ihre Taschentücher schwenkten, tauchte er auf einmal auf, zwei Kopf größer als jeder andere am Pier, ein Riese unter Menschen, und bahnte sich in voller Fahrt seiner manischen Energie einen Weg durch die Menge. Sie lehnte mit tausend anderen Passagieren an der Reling, ein Tüchlein tragisch an die Wange gedrückt, mit einer weißbehandschuhten Hand winkend, winkend, schon roch sie den Duft des Meeres, Kohlenqualm, toter Fisch und drittklassige Küche. Und da war er, Stanley, Stanley Robert McCormick, da stand er groß und aufrecht in der Junisonne und schrie durch das Pandämonium von Stimmen und Motoren und den zwei unwiderruflichen Pfiffen des Signalhorns etwas zu ihr hinauf.
    »Katherine!« schrie er, und sie sah sein Gesicht und seine Züge nur verkleinert, wie von einem Berg oder dem Rand einer Wolke, doch irgendwie konnte sie selbst aus dieser Höhe seine Stimme hören, die den Lärm durchdrang und so deutlich war, als stünde er neben ihr. »Es ist alles gut«, rief er und wedelte mit etwas, einem Blatt Papier, es sah wie eine Bescheinigung aus, doch jetzt entfernte sich das Schiff rapide, so daß es ihr vorkam, als wiche das Dock zurück und sie bliebe unbeweglich haften. »Ich kann« – hier unterbrach ihn das Schiffshorn, dessen dröhnender, metallischer Baß jeden Gedanken und alles Verständnis zunichte machte, und so verklang Stanleys Stimme zu einem dünnen, aber beharrlichen Heulen von Verzweiflung und Hoffnung – »ich kann Kinder bekommen!«

6
    Vom Tod
und von Begonien
    O’Kane aß ein Steak bei Menhoff an dem windgepeitschten Novemberabend, als die Nachricht vom Waffenstillstand über den Telegraphen kam – etwas verspätet, weil die Verbindung den ganzen Tag gestört gewesen war. Wegen des Windes waren viele Leute daheimgeblieben, aber einige Paare hatten sich doch zu Codys Abendessen bei keuschem Kerzenschein eingefunden, und die Stammgäste im Schankraum

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