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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und befestigt worden. Voltaire hatte einmal hier gelebt, und 1815 war das Schloß von Napoleons Bruder Joseph Bonaparte bezogen worden, der einen Geheimtunnel im Keller benutzt hatte, um eines Nachts zu verschwinden, als seine Anwesenheit für zu viele Menschen zum Problem wurde. Das Grundstück war von einer gewaltigen Mauer mit hohen vergitterten Torbögen umgeben, und als Katherine ihre Verlobung mit Stanley löste, floh sie über den Atlantik und schloß diese Tore hinter sich.
    Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Zeit, um ihre Nerven zu beruhigen – einmal ohne Rücksicht auf Stanleys Nerven. Er hatte diese Vase auf sie werfen wollen, das hatte er, bis zum letzten Moment. Er hätte sie für den Rest ihres Lebens entstellen, ja er hätte sie töten können – und warum? Womit verdiente sie das? Vielleicht hatte sie die Geduld verloren und ihn etwas schroff behandelt, aber nur weil er so zwanghaft und trübsinnig war, aus jeder Mücke einen Elefanten machte, sich vor ihrer Berührung fürchtete und davor, was zwischen ihnen geschehen konnte, weil er Angst vor der Liebe hatte. Das alles konnte sie verstehen und verzeihen, aber Gewalttätigkeit war unentschuldbar, undenkbar, und das wahrhaft Schlimme daran war, was sie über Stanleys finsterste Seelenabgründe aussagte.
    An ihrem ersten Tag in Prangins schlief sie die ganze Zeit, und als Madame Fleury, die Haushälterin, ihr betroffenes Gesicht zur Tür hereinsteckte, um zu fragen, ob Madame etwas essen wollte, schickte Katherine sie wieder weg. Bei Einbruch der Dämmerung überlegte sie, ob sie aufstehen sollte, aber sie tat es nicht – sie blieb einfach in den Kissen versunken liegen und hielt sich völlig still. Sie sah zu, wie die Dunkelheit in den Ecken gerann und den Boden eroberte, dann schlief sie wieder ein, die Nacht war eine schwarze, schweigsame Leere, kein Wind, kein Gemurmel vom See. Am Morgen erwachte sie bei Vogelgezwitscher und dem wechselnden Licht, das auf dem Wasser spielte, dem fließenden, wäßrigen Licht ihrer Mädchenzeit, als sie auf den See hinausgerudert war, bis sie das Ufer nicht mehr hatte sehen können, und in den ersten dreißig Sekunden dachte sie überhaupt nicht an Stanley. Sie war in Prangins, geschützt von hohen Mauern, von Toren, sicher und geborgen, hatte nichts zu tun außer zu lesen, spazierenzugehen, zu rudern, und alle Zeit der Welt dafür – war das nicht herrlich? Auf einmal bekam sie Hunger, und ihr wurde klar, daß sie nichts gegessen hatte, seit sie mit dem Zug aus Paris angekommen war, ihr Magen hatte gestreikt, revoltiert, jetzt aber knurrte er ganz friedlich und normal. Sie läutete nach der Haushälterin und ließ sich das Frühstück bringen, ein deftiges Frühstück mit gekochten Eiern, Käse und hauchdünn geschnittenem Schwarzwälder Schinken, dazu ofenwarme Brötchen und frische Sahne für den Kaffee, und sie aß alles in einer Art Traumzustand, am Fenster sitzend und auf den See hinausstarrend.
    Sie zwang sich zum Ankleiden und zur Begrüßung der Dienstboten, von denen sie die meisten fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen hatte, dann ging sie zum See hinunter und machte eines der Ruderboote klar. Von den Bergen herab wehte ein leichter Wind mit einem Duft von Schnee darin, aber die Sonne war warm, und Katherine genoß das Gefühl der Riemen in ihrer Hand, die Gischt, das Schaukeln des Bootes, und jeder Ruderschlag brachte sie weiter weg von den Kompliziertheiten ihres Lebens, von Stanley und Hochzeitskleidern und Säcken mit Arborio-Reis – und von dem erregenden Gedanken an Babys, auch davon. Was hatte er da über die lärmende Menge und das geistlose Tuten der Schiffssirene hinweg gebrüllt? Ich kann Kinder bekommen!
    Das war süß. Wirklich. Und sie wollte ja ein Baby, nicht nur für Stanley und ihre Mutter und um das Andenken ihres Vaters und aller Dexters vor ihm zu ehren, sondern auch aus einem höchst persönlichen, egoistischen Grund: es war ihr Recht und ihr Wunsch als Frau. Als selbständige, unabhängige Frau. Neunundzwanzig Jahre lang hatte sie Verstand und Körper entfaltet, und wozu? Um ihre Wahl zu treffen, ihre freie Wahl, ohne Rücksicht auf Konventionen, Erwartungen oder die Anforderungen der Männerwelt, um zu heiraten oder es sein zu lassen, ein Kind zu bekommen oder nicht, am Institut Biologie zu studieren oder den Mount Everest zu bezwingen, und sie hatte Stanley gewählt, ihn und keinen anderen. Den strammen, scheuen Stanley, Stanley den Künstler, Stanley den Sportler, Stanley

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