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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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in Flammen stehen, sie würde weiterhin ruhig an die Tür klopfen, um zu fragen, ob Madame noch etwas brauche. Ihre Mundwinkel zogen sich kaum merkbar um die Worte zusammen: »Das lehnte er ab, Madame. Aber wir haben ihm das Tor nicht geöffnet, und Jean-Claude behält ihn im Auge.«
    Katherine stellte die Teetasse ab. Ihr Herz schlug rascher. »Ja, ist er aus dem Dorf? Ist er Handelsreisender, Adliger, Ziegenhirte?«
    Die Haushälterin zuckte dazu die Achseln, und es war ein gallisches Achselzucken, gerade so respektvoll wie notwendig, während es ihr zugleich gelang, nicht nur Ungeduld, sondern auch eine tiefe Enttäuschung über die Frage zu vermitteln. Sie schürzte die Lippen. »Jean-Claude sagt, er hat einen Motorwagen.«
    Und dann sprang sie vom Tisch auf, keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit, um ihre Frisur zu richten, nach einem Hut zu greifen oder sich darum zu kümmern, was sie anhatte, jagte die Steinstufen hinab auf die kreisrunde Einfahrt, ihre Schritte ungelenk auf dem Kies, bis zum Tor war es weit – atemlos, aber immer noch sicher, daß es falscher Alarm war, irgendein Oxford-Student auf seiner großen Europatour, der sich nach Geschichte oder Architektur des Schlosses erkundigen wollte, ein Automobilenthusiast mit einem mechanischen Problem, ein Freund ihrer Mutter, ein aufdringlicher Bursche aus dem Ort... aber sie irrte sich. Denn es war Stanley, da stand Stanley am Tor wie eine Erscheinung, die soeben dem Erdboden entstiegen war und Form angenommen hatte. Seine Hände packten die Gitterstäbe, wie um sich aufrecht zu halten, seine Schultern hingen herab, den Kopf hielt er reuevoll gesenkt.
    »Stanley!« rief sie aus und wollte sich zwingen, nicht loszulaufen, bemühte sich um Gelassenheit und Haltung, doch nach kurzer Zeit spürte sie ihre Füße nicht mehr und rannte wider Willen. Er war erstarrt, wie angeschmiedet an die Stäbe – er rührte sich nicht, hob weder den Kopf noch sah er sie an. Jean-Claude, der Torwärter, musterte sie befremdet und schien bereit, jederzeit loszustürzen und zu verhindern, was immer passieren mochte.
    Jetzt war sie da, am Tor, ihre Hände umklammerten die seinen, und sie sah durch das Gitter in sein leidendes Gesicht. Wieder sprach sie seinen Namen aus: »Stanley.« Und dann wußte sie nichts mehr zu sagen, aber er blickte sie immer noch nicht an, ließ den Kopf hängen, zog die Schultern ein, das Haar hing ihm in die Augen, er wirkte unterwürfig, der Prügelknabe, der sich seine Schläge abholen kam. In diesem Moment blieb alles stehen, die Erde gepfählt auf ihrer Achse, die Sonne hielt in ihrem Lauf inne, der Wind ließ nach, Jean-Claudes Gesicht war reglos wie eine Photographie, bis es ihr endlich dämmerte und sie wußte, was zu sagen war, und es war beinahe, als spräche sie mit der Stimme ihrer Mutter oder der von Miss Hershey, in deren Klassenzimmer sie vor vielen Jahren gesessen und gemeinsam mit den anderen naiven heiratsfähigen Mädchen aus der Bostoner Back Bay Französisch, Anstand und Benimm sowie die feineren Aspekte der Etikette erlernt hatte: »Wie nett, daß du gekommen bist.«
    Die Hochzeit war im September, und weil sie in Europa stattfand, kurzfristig angekündigt und überstürzt organisiert, fielen die amerikanischen Zeitungen geradezu darüber her: MCCORMICK-TRAUUNG UNTER VIER AUGEN, BOSTONER GESELLSCHAFTSDAME HEIRATET MÄHMASCHINEN-ERBEN IN SCHWEIZER UNTERSCHLUPF, GEHEIMSTUFE EINS BEI MCCORMICK-DEXTER-HOCHZEIT . Es gab zwei Zeremonien – eine zivile Trauung auf dem Genfer Standesamt und eine private Feier in Prangins, geleitet von einem französischen Geistlichen unbestimmter Konfession, von dem Nettie den Verdacht hatte, er sei Unitarier oder gar Universalist. Sie hatte ihre Passage gebucht, sobald Stanleys Telegramm mit dem Hochzeitstermin eintraf, und sie setzte sich von Anfang an für eine kirchliche Trauung am Geburtsort des Kalvinismus ein – alles andere wäre Sakrileg, alles andere würde sie tief verletzen, als risse man ihr das Herz heraus und trampelte darauf herum –, aber es war Katherines Hochzeit, Katherines Schloß, und Katherine hatte jetzt die Macht über Stanley, und egal wie glühend Nettie kämpfte, bis zum letzten Moment, da dieser näselnde Franzosentrottel die beiden zu Mann und Frau erklärte, ihr Kampf war zum Scheitern verurteilt. Stanley hatte seine Wahl getroffen, seinen Sprung getan, von einem schaurigen Abgrund zum nächsten, und sie konnte nichts dagegen unternehmen.
    Sie schloß einen unsicheren

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