Riven Rock
der Sache ein Ende zu bereiten.
Eines Nachts, als Mary Virginia in Trance in ihrem Zimmer lag, ließ Nettie das Klavier abtransportieren, ins Haus ihres Schwagers in der East Erie Street, als permanente Leihgabe. Falls Nettie für den Rest ihres Lebens nie wieder einen einzigen Ton Klaviermusik hören sollte, hätte sie sich glücklich geschätzt. Mary Virginia erwachte wie üblich bei Tagesanbruch, ging an den Platz im Salon, wo das Klavier gestanden hatte, fiel dort ohne ein Wort auf die Knie und begann zu beten. Sie betete den ganzen Vormittag und den ganzen Nachmittag und hinein in den Abend, die Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen, in die Nacht und den nächsten Morgen, ihre Gebete waren laut und gellend, sie dröhnten in der geheiligten Atmosphäre des McCormick-Familiensitzes wie die zornigen Hämmer von sechsundfünfzig Elfenbeintasten.
Diesmal betete sie sich geradewegs ins Krankenhaus, aber sie war wieder zu Hause und mehr oder minder ruhiggestellt, als ihr einundzwanzigster Geburtstag näher rückte. Nettie war gegen eine Großjährigkeitsparty, aber der Mähmaschinenkönig bestand darauf. Was sollten denn die Leute denken? Daß Cyrus Hall McCormicks älteste Tochter verrückt war? Daß er kein Vertrauen in sie besaß? Daß ihr Leben vorbei war, noch ehe es begonnen hatte? Blödsinn. Natürlich sollte sie ihre Volljährigkeitsfeier haben wie jedes andere Mädchen ihres Alters und ihres Standes, und im übrigen sollte dieses Fest nach allerhöchstem McCormick-Maßstab organisiert und durchgeführt werden, einem Maßstab, der Familien wie die Armours, die Swifts und die Pullmans Staub schlucken lassen würde. War das klar?
Es war klar. Und so öffnete Nettie, mitten in einem Februar-Kälteeinbruch, ihr Haus für sechshundertfünfzig Gäste, denen eine Armee von Dienstboten Champagner und Austern servierte, und später gab es ein förmliches Abendessen für fünfzig in der Bibliothek und anschließend Tanz bis Mitternacht im Ballsaal im dritten Stock. Angetan mit einem Gewand aus weißem Crêpe und französischen Handschuhen mit drei Knöpfen, kühl wie der zunehmende Mond, ganz ruhig – manche sagten, lethargisch – stand Mary Virginia im Begrüßungskomitee, zusammen mit ihren Eltern, Cyrus jr. und sechs weißgekleideten Absolventinnen der Kirkland-Lehranstalt, und lächelte jeden der sechshundertfünfzig Ankömmlinge an.
»Guten Abend«, sagte sie zu jedem einzelnen, und ihre Stimme klang wie losgelöst von ihrem Körper und ihrem schönen, schimmernden Gesicht, »ich bin Mary Virginia McCormick, und ich freue mich sehr, daß Sie mit mir meinen Eintritt in die Gesellschaft feiern.« Es gab keine Gebete, keine Schreie, keine Unterhaltungen mit imaginären Personen, und das Ganze lief ohne jede Störung ab, bis auf die wirklich schwierige letzte halbe Stunde, in der Johnnie Hand, der Kapellmeister, sich dem Wunsch des Ehrengastes fügte, man möge sie auf dem Klavier spielen lassen. Mary Virginia beugte sich mit konzentriertem Ausdruck über die Tasten, während die Gäste, Musiker und Dienstboten eine Miene verzückter Erwartung aufsetzten, und legte dann los mit etwas, das anfangs eine vage, flüchtige Ähnlichkeit mit einer ChopinPolonaise besaß, jedoch rasch zu der mißtönenden, gräßlichen, obszönen Kakophonie ausartete, die ihre Mutter so gut kannte. Aus einem Gesicht nach dem anderen wich das höfliche Lächeln, der Kapellmeister wirkte gequält, und Mrs. Eulalia Titus aus der Prairie Avenue mußte auf die Damentoilette begleitet werden, weil sie einen ihrer Anfälle hatte.
Nettie versuchte, die Darbietung nach etwa einer Minute mit lautem Beifall zu beenden, und das Publikum nahm ihn pflichtbewußt, ja enthusiastisch auf, so daß Mary Virginias Bemühungen einen Moment lang von einer Flutwelle des Applauses überdeckt wurden, doch als das Klatschen verebbte, spielte sie immer noch. Den Kopf über die Tasten gesenkt, mit wild fuchtelnden Ellenbogen, nichts als Daumen und Knöchel und aufblitzende Handgelenke, folterte sie das Instrument mit Variationen, die kein zivilisiertes Ohr je vernommen hatte. Nach fünf Minuten versuchte es Nettie nochmals. Sie rief: »Bravo!« und klatschte so heftig los, daß sie meinte, sie werde sich an den Handgelenken verletzen. Und wieder nahmen die Zuhörer den Applaus auf, dankbar und beschwörend riefen sie »Bravo!«, als stimmten sie damit den Rückzug an. Mary aber spielte weiter, spielte immer weiter, bis der Ballsaal leer war und Cyrus jr. und
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