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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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während der Fahrt von Chicago im privaten Pullmanwaggon führte sie lebhafte Unterhaltungen mit Phantomen, und zweimal versuchte sie, sich aus dem Zug zu stürzen. Zum Glück war Cyrus jr. da und hielt sie zurück, aber Nettie brach unter der Belastung fast zusammen.
    Sechs Wochen, sagten die Ärzte. Mindestens. Also beschloß Nettie, die selbst vollkommen erschöpft war – der Kollaps von Mary Virginia, Papas Krankheit, und in Chicago sehnten sich ihre Kleinen nach ihr –, ein Haus in Waverley zu mieten und Harold und Stanley nachkommen zu lassen. Es war eine von Stanleys frühesten Erinnerungen. Missy Hammond und Marie, ihr französisches Kindermädchen, fuhren mit ihm und Harold für sechs Wochen in Ferien – und wußte er denn, wie lang sechs Wochen waren? Und wie viele Tage eine Woche hatte? Und wie der erste Buchstabe vom Alphabet hieß? Ja. Und sie würden mit der Tschu-Tschu-Eisenbahn den weiten Weg durch den großen Staat Illinois, durch Indiana – konnte er denn Indiana sagen? – und Pennsylvania und New York bis nach Massachusetts fahren, wo Mama und die große Schwester jetzt waren. Seine große Schwester war krank, sehr krank, aber es würde ihr bald bessergehen, und dann würden sie alle wieder nach Hause zurückkehren.
    Stanley war damals zwei und Harold fünf. Von der Zugfahrt behielt er die Erinnerung an ein intensives, blendendes Grün, ein Meer von Grün, das hinter den Fenstern vorbeizog, gewaltig und ozeanisch, eine Welt, die größer war, als sein Verständnis es zuließ. Von dem Haus in Waverley wußte er nichts mehr, außer daß die Sonne diese neue, weitläufige und undifferenzierte Welt aus Grün beschien und daß das dichte Gras am Rand des Gartens von Schlangen bevölkert war. Seine Mama erzählte ihm von ihnen – schlanke, harte, peitschenartige Wesen mit dem falschen Glanz eines eingewickelten Weihnachtsgeschenks, kleine verborgene Präsente aus Gift und Tod, die er niemals berühren durfte. So erinnerte er sich an jene Reise nach Massachusetts im Sommer 1877, an das und an seine große Schwester. Die krank war.
    Mary Virginias Zustand besserte sich in McLean. Es war keine wundersame Heilung, gewiß nicht die Art von Genesung, die Nettie erwartete, die sie verlangte und von den Ärzten Tag und Nacht einforderte, aber immerhin hörten die imaginären Unterhaltungen auf, und blutige Stigmata an den Wänden gab es auch keine mehr. Sie fuhren alle gemeinsam nach Hause, zurück in das Sandsteinhaus in der Rush Street, dessen Ballsaal Platz für zweihundert Gäste bot und wo es einen dampfbeheizten Stall für die Pferde, die Ziege, die Kuh (der Mähmaschinenkönig mochte seine Milch gern frisch) und das Pony gab, das Anita fünf Jahre später zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekommen sollte. Mary Virginia wurde älter und hübscher, aber sie mußte die Lehranstalt der Schwestern Kirkland noch vor dem Abschluß verlassen, weil Miss Nevelson, ihre Lateinlehrerin, einen abnehmbaren Kopf besaß und ihn ständig verkehrt herum aufsetzte, und das konnte Mary Virginia einfach nicht ausstehen – so was hatte sie schon immer gehaßt –, also engagierte Nettie einen Privatlehrer, der ins Haus kam. Es folgte ein Jahr von fragilem Frieden, und dann, mit achtzehn, brach Mary Virginia erneut zusammen, sie wurde Opfer von unbestimmten Ängsten und mußte wieder ins Krankenhaus – diesmal sechs Monate lang.
    Eine vergleichsweise ruhige Phase schloß sich an, eine Zeit, in der sie die Zimmer des Hauses zu allen Nachtstunden durchwanderte wie eine verlorene, umherirrende Seele – erfreulicherweise aber ganz friedlich –, doch dann wurde sie allmählich wieder erregter, so wie ein Naturereignis sich langsam aufbaut, und in ihrer Erregung wandte sie sich dem Klavier zu. Plötzlich stand sie im Morgengrauen auf und hämmerte mit solcher Macht in die Tasten, daß ein Chopin oder selbst ein Liszt davon gelähmt worden wäre, sie schlug und donnerte auf das Klavier ein, bis ihre Finger wund und die Tasten blutig waren, sie setzte die Ellenbogen, das Kinn, sogar die Zähne ein, und so ging es stundenlang, manchmal sieben oder acht Stunden am Stück, und nichts konnte sie davon ablenken oder abbringen. Nettie wäre das ja recht gewesen, wenn sie nur schön gespielt hätte, ordentlich, und eine erkennbare Melodie. Aber nein, ihr Klavierspiel war eine atonale Orgie, blindlings, barbarisch, animalisch – es war verstörend, nichts anderes, und sie war gestört, ihre Tochter war gestört, und Nettie beschloß,

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