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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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einer seiner Kommilitonen aus Princeton sie an den Armen packen und ihre Finger dem letzten donnernden Akkord entreißen mußten, der durch den Raum hallte wie das Ende eines Trommelfeuers.
    Ja. Und jetzt trauerte sie um ihren Vater.
    Zunächst – während der ersten paar Sekunden jedenfalls – hatte Stanley kein Problem damit. Niemand achtete im geringsten auf ihn – alle blickten auf Mary Virginia, seine große Schwester, die Erlöserin, die im letzten Augenblick hereingestürmt war, um die Menge einzuschüchtern und ihren kleinen Bruder zu erretten, und er schwebte, er flog geradezu... doch als sie dann direkt an ihm vorbeilief und sich auf dieses kalte tote Ding warf, das einmal ihr Papa gewesen war, da stürzte Stanley von der Decke wie eine Tontaube. Hier kam der Engel in Menschengestalt, seine große Schwester, die Harold und ihn oft auf Spaziergänge in den Park mitnahm, der Hochofen der Zuneigung, der ihn an Winternachmittagen dick einmummelte, wenn sie zum Schlittschuhlaufen und zu heißem Kakao am Seeufer aufbrachen, und ihm ins Ohr flüsterte, daß es lustvoll kitzelte, und ihn schwesterlich umsorgte, wenn er eine Erkältung hatte – aber sie beachtete ihn nicht. Sie war nicht seinetwegen hier, ja sie sah ihn nicht einmal.
    Jemand kreischte. Alles bewegte sich auf den Sarg zu, in Mamas Gesicht blitzte das Höllenfeuer des Zorns, Harold glotzte verdattert, und Missy und Anita bissen sich auf die Fingerknöchel, als wären es Rippchen oder Hühnerflügel, und Stanley machte sich unsichtbar. Sobald die Mutter seine Hand losließ, war er weg, verschwand im Chaos der knarrenden Stühle, der schreienden Menschen, zwischen diesen überdimensionierten Körpern, die sich rücksichtslos und zielgerichtet bewegten. Er blieb nicht, um mitzuerleben, wie sein ältester Bruder und seine zwei Onkel Leander und William die große Schwester von dem toten Vater herunterzerrten, er sah nicht die Mischung aus Wildheit und Verwirrung in ihrem Gesicht, sah sie nicht treten und beißen und um sich schlagen, bis ihr der dünne Fetzen des Hemdchens über die Hüften rutschte und die zerkratzte, nackte Haut darunter freilegte. Nein: er rannte schnurstracks nach unten in die Wäschekammer zu dem großen Eichenschrank, in dem er sich vergrub.
    Später, viel später – es mußte schon nach Mitternacht sein – wagte er sich wieder auf den Korridor hinaus. Er hatte das Abendessen verpaßt, und Mama hatte ihn nicht gesucht, was bedeutete, daß sie an einer ihrer Migräneattacken litt und sich wie eine Gefangene in ihrem Zimmer eingesperrt hatte. Er hatte Marie nach ihm rufen hören, später auch Missy und Anita, sich aber darauf nur noch tiefer zwischen den Handtüchern und Bettlaken vergraben. Er brauchte sie nicht – brauchte weder die große Schwester noch seine Mutter noch sonstwen –, und selbst wenn er sie brauchte, hätte er doch nichts unternehmen können. Sobald er einmal in die unterste Lade des breiten Wäscheschranks geklettert war und sie zentimeterweise zugeschoben hatte, indem er die rechte Schulter gegen die rauhe, unpolierte Fläche des Bretts über sich drückte, war er machtlos. Etwas in seinem Inneren nagte sich einen Weg hinaus – etwas, was er verschluckt hatte, etwas Lebendiges, und es ließ ihn weder Atem schöpfen noch Arme und Beine bewegen, ja nicht einmal den Kopf heben, damit er zusehen konnte, wie es mit Klauen und Reißzähnen die Haut seines Bauches aufschlitzte und diesen hermetischen Raum mit einem Bart anfüllte, der nicht aufhörte zu wachsen, bis es keinen Platz mehr in der Schublade gab und auch keine Luft mehr. Für Stanley, einen braven Jungen, einen aufgeweckten Jungen, einen netten und ganz normalen Jungen, war dies der Anfang des Schreckens. Von nun an würde es für ihn kein Versteck mehr geben.
    Der Abend wurde zur Nacht, und die ganze Zeit lag Stanley reglos da, er horchte auf die Geräusche des Hauses, auf das Kommen und Gehen, das Klirren von Silberbesteck und Kristallglas und das Gemurmel der Dienstboten im Korridor. Er kämpfte seinen Hunger nieder, verleugnete sich, tat Buße und lag so still da wie der Leichnam seines Vaters im Salon. Am Ende aber war es ein Bedürfnis der Lebenden, das ihn aus der Schublade trieb: er mußte Pipi machen.
    Als er endlich aus dem Schrank kroch und den Kopf zur Tür hinaussteckte, um sicherzugehen, daß niemand auf dem Korridor war, mußte er so dringend, daß er sich ihn schon abquetschte, seinen Piepmatz quetschte, den ihn Mama allerdings nicht

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