Riven Rock
Zeiten konnte sie scheinbar kaum atmen, raste in panischer Angst von einem Zimmer zum nächsten, blau im Gesicht und nach Luft schnappend, obwohl rings um sie nichts als Luft war. Dann wieder fand sie manchmal tagelang, wochenlang keinen Schlaf, und es entsetzte Nettie, wenn sie um zwei oder drei Uhr morgens in ihr Zimmer lugte und sie dort reglos im Bett liegen sah, in den Zenit ihres privaten Universums starrend – wach, aber ohne ihre Mutter wahrzunehmen, so als wäre sie blind und taub.
Mit fünfzehn erwachte sie zu neuem Leben, wiederauferstanden und hyperkinetisch, die Funken sprühten ihr von den Fingern, und sie lachte mit offenem Mund über den großen, ständig ablaufenden Witz dieser Welt. Ihre Gesten und Bewegungen erstarrten kurz und setzten dann wieder ein, beschleunigt und noch einmal beschleunigt, so daß sie ihre ziellose Tour von Zimmer zu Zimmer in einem spastischen, ruckartigen Trott vollzog, der wie ein grausames Nachäffen des Leidens der armen Missy wirkte. War sie vorher ohne jeglichen Affekt gewesen, geradezu leergefegt von aller Emotion, so war sie nun auf einmal leidenschaftlich wie ein Liebhaber zu Nettie, der eigenen Mutter, klammerte sich beim Zubettgehen ungestüm an sie und zog den Gutenachtkuß so sehr in die Länge, daß er zur Tortur wurde. Sie schlafwandelte, plapperte Unsinn, verängstigte ihre Mitschülerinnen. Und dann, kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag, begann sie mit den Selbstverstümmelungen.
Eines der Kindermädchen, eine junge Französin namens Marie Lherbette, entdeckte es als erste. Damals saß Nettie bequem in einem Louis-seize-Sessel im Salon, einem eifrigen, wohlgenährten jungen Mann gegenüber, dessen Reise nach China im Namen der Presbyterianischen Missionsgesellschaft zu bezahlen sie sich bereit erklärt hatte. Auf dem niedrigen Tischchen zwischen ihnen stand ein Tablett mit Häppchen und einer Teekanne, deren Wärmehaube ihre Großmutter in den Anfängen des Jahrhunderts gehäkelt hatte. Der junge Mann äußerte gerade einen komplizierten Gedanken über das asiatische Denken und den beklagenswerten Mangel an christianisierendem Einfluß in einer so alten und doch so verderbten Kultur, als Marie Lherbette anklopfte und mit tiefer Verbeugung den Raum betrat.
»Ja?« sagte Nettie. »Was ist denn, Marie?«
Das Mädchen blickte zu Boden. Sie war zwanzig, recht hübsch auf ihre Weise und auch pflichtbewußt, hatte jedoch in Netties Augen zuviel, nun, Französisches an sich, als daß sie völlig vertrauenswürdig gewesen wäre. »Madame, bitte, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Jetzt? Sehen Sie denn nicht, daß ich beschäftigt bin?«
»Es liegt etwas« – die Französin suchte nach dem Wort – »Seriöses in dem, was ich Ihnen sagen muß.«
Etwas Seriöses? Nettie musterte Marie kurz, erhob sich dann und entschuldigte sich bei ihrem Besucher. Im nächsten Augenblick folgte sie dem Mädchen die Treppe zu den Kinderzimmern hinauf. »Was ist los?« wollte sie wissen. »Ist etwas mit Anita? Mit Mary Virginia?«
»Ja, Miss Mary Virginia«, flüsterte das Kindermädchen über die Schulter, während sie mit raschen, nervösen Schritten die Stufen erklomm und den Flur entlanghastete. Nettie mühte sich, ihr zu folgen, ihre Röcke verfingen sich an den Knien und wickelten sich ihr hartnäckig um die Knöchel, der Teppich unter ihr knisterte, die Möbel waren wie versteinert. Und dann traten sie durch die Tür in das Zimmer ihrer Tochter, und Nettie sah Mary Virginia auf dem Bett ausgestreckt, in ihrer schlaflosen Trance, nackt bis auf ein Paar Socken, und sie sah die deutlichen blutigen Handabdrücke auf der geblümten Tapete und die langen glänzenden Rinnsale, die aus ihrer Schamgegend die Innenseite der Oberschenkel hinabliefen, als wäre ein wildes Tier über sie hergefallen.
Sie brachten sie ins McLean Hospital nach Waverley/Massachusetts, wo sie gestochen, gezwickt, gewogen, vermessen, abgehört, analysiert und ausgefragt wurde von den größten Koryphäen des Faches, die das Geld der McCormicks herbeiholen konnte – und das bedeutete: von allen. Leider waren sich die Experten nicht einig. Der eine hielt Mary Virginias Problem für Neurasthenie, ein anderer für Wahnvorstellungen, ein weiterer für Dementia praecox. Man wollte sie zur Beobachtung dabehalten – und zu ihrem eigenen Schutz. Blut hatte sie nicht wieder fließen lassen, außer aus zwei kaum erkennbaren Löchern, die sie sich mit einem Federkiel in den Unterarm gebohrt hatte, aber
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