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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gewußt? Weil wir nämlich keinen kleinen Piepmatz haben wie die Jungen – Frauen sind anders.« Sie erhob sich unsicher, als fände sie ihr Gleichgewicht nicht, und murmelte irgend etwas, das er nicht verstand. Dann sagte sie: »Möchtest du mal sehen?«
    Er wußte nicht, was er tun sollte. Er blieb wie angewurzelt am Waschbecken stehen und sah zu, wie seine große Schwester sich das Unterkleid über den Kopf zog, bis sie überall weiß war. Riesenhaft weiß. Weiß wie eine Statue. Und er sah ihre Brüste, schwer und weiß im Schein der Gaslampe, und ihren Nabel und die Stelle, wo ihr Penis hätte sein sollen, doch statt dessen waren dort nur Haare, blonde Haare. »Siehst du?« sagte sie, die Worte zäh in ihrem Mund, und einen Moment lang dachte er, sie kaue Bonbons, Karamelbonbons, und gleich würde sie ihm welche geben – sie neckte ihn nur ein bißchen, darum ging es bei dieser Schau.
    Aber es gab keine Bonbons, das wußte er, und er wollte am liebsten weglaufen, zurück zu der Schublade im Schrank, in der er nie wieder einen Augenblick des Friedens finden würde, zu seiner Mutter, zu Harold, Missy, Anita, zu irgendwem – aber er tat es nicht. Er stand am Waschbecken und starrte den weiß schimmernden nackten Körper seiner Schwester an, seiner großen Schwester, die sehr schön und sehr krank war, bis sie das Unterkleid aufhob und sich wieder mit dem formlosen Schwarz ihrer Trauer bedeckte.
    Danach, nach der Beerdigung und den Beileidsbriefen und dem schwarzen Flor, ging Mary Virginia fort. Stanley konnte den genauen Zeitpunkt nicht benennen – es war vielleicht eine Woche nach der Beerdigung, zwei Wochen, ein Monat –, jedenfalls leitete Mama alles in die Wege, und dann war die große Schwester fort. Er erzählte nie irgendwem von jenem Abend auf der Toilette, nicht einmal Harold, aber er ging ihm noch lange nach dem Begräbnis durch den Kopf, ein tiefes, schwärendes Loch von Scham. Mädchen waren anders als Jungen, und Frauen waren anders als Männer, das wußte jeder, doch jetzt wußte Stanley, als einziger unter seinen Freunden und Schulkameraden, wie und warum sie anders waren, und es war ein Wissen, um das er nicht gebeten hatte, ein Wissen, das seine Träume komplizierte und ihn Hemmungen verspüren ließ vor seiner Mutter, vor Anita und Missy und all den anderen weiblichen Personen, die sein Leben bedrängten. Er sah ihnen ins Gesicht, auf ihr Haar, ihren Rock, ihre Füße, und er wußte, wie weiß sie unter den Kleidern waren, er wußte um dieses blasse, ausgebleichte, froschbäuchige Weiß, um die Brüste, die dort hingen wie Stümpfe von etwas, das ihnen fehlte, und um diese Narbe zwischen den Beinen, wo eigentlich Fleisch sein sollte. Es war eine quälende Vision, ein ununterbrochener Alptraum, mehr als ein Neunjähriger lange mit sich herumtragen konnte, und es dauerte den ganzen Frühling und den Sommer in den Adirondack Mountains, bis die Bilder endlich zu verblassen begannen.
    Mary Virginia besuchte sie von da an nur einmal jährlich in der Rush Street, immer in Begleitung ihrer Ärztin, einer kleinen, schmallippigen Frau von der Statur eines Mannes und mit großen, hervorquellenden Augen, die die Jungen dermaßen faszinierten, daß sie sie nicht ansehen konnten, ohne zu kichern. Diese Besuche waren immer kurz – jeweils zwei oder drei Tage, die Mama und Anita so durcheinanderbrachten und ängstigten, daß man hätte meinen können, Mary Virginia sei eine Anarchistin mit einer tickenden Zeitbombe, dabei war sie in Wahrheit gutmütig wie eine Kuh – und fast genauso fett. Ihren letzten Besuch in Chicago stattete sie 1892 ab, über die Weihnachtsfeiertage, zu denen sie mit viel Gepäck und einer Kavalkade von Dienstboten und weißgekleideten Krankenschwestern eintraf. Stanley war nun kein Junge mehr. Im Herbst war er zum Studium nach Princeton gegangen, er hatte tausend Dinge im Kopf und wuchs emsig zu seinen eins dreiundneunzig heran, die ihn hoch über alle Kommilitonen aufragen ließen, und er hatte seit Monaten nicht mehr an seine verrückte große Schwester gedacht – sie war weg, aus den Augen, aus dem Sinn, eine peinliche Sache für ihn und die Familie. Doch wenn er sie in diesen Weihnachtstagen wie eine Schlafwandlerin die Treppe herunterkommen oder neben diesem kleinen Mannweib von Ärztin am Tisch sitzen sah, erschrak er über die Veränderungen an ihr. Seine große Schwester, die Schönheit, hatte sich in eine übergewichtige, klettenhafte alte Jungfer verwandelt, die immer

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