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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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mehr so nennen ließ. Ein Penis war es aber auch nicht, nicht in Mamas Wortschatz. Nein: es war nur ein schmutziges Ding, das kleine Jungen für irgendeinen schmutzigen Zweck besaßen, und er durfte es niemals anfassen, außer um Pipi zu machen, hatte er das verstanden? Er verstand zwar nicht, aber immer wenn sie es ihm sagte, nickte er brav, senkte den Kopf und ließ seinen Blick den Rückzug antreten.
    Der Flur lag verlassen da. Ganz hinten hatte jemand ein Licht brennen lassen, vor dem Zimmer, das sie immer noch das Babyzimmer nannten, und eine weitere Lampe brannte in der Toilette gegenüber. Kein Geräusch war zu hören. Die Trauergäste hatten ihre schweren, festen Schuhe, ihre Pelze und ihre Juwelen und ihre langen Beileidsgesichter wieder nach Hause mitgenommen, und alle anderen hatten sich schlafen gelegt – immerhin stand am nächsten Morgen das Begräbnis an. Stanley quetschte ihn sich ab. Zwei Miniaturstacheln pikten ihn dort unten, auf beiden Seiten, knapp oberhalb der Schamgegend. Er hielt einen Moment lang den Atem an und lauschte, dann huschte er über den Korridor in die Toilette und schlug die Tür hinter sich zu. Er machte gerade Pipi – erleichterte sich, und ja, es war wirklich erleichternd, die einzige Erleichterung an diesem Tag –, als er in den Spiegel blickte und feststellte, daß jemand die Tür hinter ihm aufdrückte.
    »Ich bin hier drin«, trällerte er und wandte sich instinktiv ab, um seinen Unterleib zu verdecken. Zur Antwort erhielt er nur das leise metallische Knirschen der Scharniere, die Tür schwang unerbittlich auf, das Geräusch seines Harns in der Keramikschüssel wurde plötzlich zur Peinlichkeit, ein stetiger, brennender, aufgestauter Strom, den er einfach nicht stoppen konnte. Er warf einen nervösen Blick über die Schulter und erwartete eigentlich Harold. »Kleinen Moment noch!« rief er, aber es war zu spät.
    Es war nicht Harold, der da in der Tür stand, sondern Mary Virginia, barfuß und in ihrem schwarzen Unterkleid. Sie schien verwirrt, so als hätte sie noch nie im Leben eine Toilette – oder Stanley – gesehen.
    Was Stanley anging, so versuchte er, seinen Penis zurück in die Hose zu stecken, noch ehe er fertig war, so daß er sich vorne mit heißem Pipi besprudelte. Schmutzig, schmutzig, schmutzig , konnte er seine Mutter bereits sagen hören. Er wurde rot. Das Blut dröhnte in seinen Ohren. Er wich von der Toilette zurück.
    Eine Zeitlang stand Mary Virginia da und schaukelte vor und zurück auf ihren Füßen, die so weiß waren, daß sie auf den bunten Kacheln zu glühen schienen. »Stanley, das Elfchen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang seltsam. Die Worte waren verschliffen und verlangsamt, als hätte sie etwas im Mund. »Der kleine Kobold«, sagte sie. »Der Junge, der mit den Fingern schnippt und einfach so verschwindet.«
    Stanley sah zu, wie ihre Füße über den Fußboden glitten, fasziniert davon, wie ihre Zehen die Fliesen berührten und wieder losließen. »Hab keine Angst«, sagte sie und streckte die Hand aus, um ihm durchs Haar zu fahren, »... sie haben mich ruhiggestellt, das ist alles. Für meinen Seelenfrieden. Damit ich zur Ruhe komme.«
    Stanley versuchte zu lächeln. Seine Hose war durchnäßt und unbequem, ebenso seine Unterhose, die ihn jetzt im Schritt rieb, er hatte Hunger und war müde, erschöpft von den Strapazen und von dem Entsetzen, das über ihn gekrochen war, als er sich den ganzen Tag bis in die Nacht hinein in der Schublade versteckt hatte.
    Mary Virginia – die große Schwester – lächelte matt zurück, und dann, so beiläufig, als wäre er überhaupt nicht da, raffte sie das Unterkleid hoch und setzte sich auf die Toilette. Sie starrte ins Leere, und er hörte das scharfe Zischen ihres Urins, als er sich zum Händewaschen umdrehte – Immer die Hände waschen , sagte seine Mutter, immer! Er war durcheinander. Sein Gesicht brannte. Er wollte zu seiner Mutter.
    Aber dann lachte Mary Virginia auf, ein hohes, heiseres, glucksendes Lachen, das ihn erschreckte, so daß er sich wider Willen umwandte. »Stanley der Trübsalbläser«, sagte sie. »Immer bist du so trübsinnig, Stanley – was ist denn los? Ist es wegen Mama?« Und dann: »Ich wette, du hast noch nie eine Frau pinkeln sehen, stimmt’s?«
    Stanley schüttelte den Kopf. Die Beine seiner Schwester waren weiß, noch weißer als ihre Füße, und das Unterkleid war über die Knie hinaufgerutscht.
    »Frauen setzen sich hin beim Pinkeln, hast du das

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