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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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gleich in Tränen ausbrach, wenn man auch nur eine Minute lang nicht mit ihr redete.
    Allerdings blieb sie meist auf ihrem Zimmer, und unter all dem Festtagstrubel, den Feiern, Geschenken, Liedern und Trinksprüchen sah Stanley nur wenig von ihr. Tatsächlich war er im Laufe der drei Tage, die sie bei der Familie zubrachte, nur einmal mit ihr allein – am letzten Tag, als sie sich nach dem Mittagessen plötzlich bei ihm unterhakte und ihn bat, einen Spaziergang im Garten mit ihr zu machen. Es fiel ein kalter Nieselregen, und sie würde sich die Röcke ruinieren, aber Mama und die glupschäugige Ärztin warfen ihm einen vielsagenden Blick zu, und so ging er mit.
    Stanley war nicht sehr geübt im Plaudern, aber er plapperte dennoch drauflos, dem gedunsenen Mond ihres Gesichts zugewandt, weil er Angst hatte, sie würde losheulen, wenn er verstummte, und sie spazierten zweimal durch den Garten, bevor sie das erste Wort sprach. Sie schritten gerade nochmals den kahlen Laubengang ab, als sie unvermittelt an seinem Arm riß und ihn dicht an sich heranzog, von Angesicht zu Angesicht, so als tanzten sie ein Menuett miteinander. Sie versuchte ihm etwas zu sagen, aber sie stotterte inzwischen stark und dehnte die Worte in die Länge, bis sie zu einer eigenen Symphonie von Bedeutungen wurden – absolut unverständlich, selbst für ihre Ärztin. Der Nieselregen lag auf ihren Wimpern und Augenbrauen und ließ ihren Hut glitzern. Es war kalt. Er sah ihr in die Augen: zwei Schwemmböden des Wahnsinns. »S-Stanley«, sagte sie und mühte sich ab. »Mein kleiner Bruder...«
    Sie war aufgetrieben und weiß, weich wie Teig, und er wußte, wie weiß sie unter den Kleidern war – sah es blitzartig vor sich, die ganze Szene trat ihm in diesem Moment wieder vor Augen –, und während sich seine hoffnungslos verrückte, fettgesichtige Schwester an ihn klammerte und ihm ihren Atem ins Gesicht blies, spürte er, wie er in einem plötzlichen Schock aus Scham und Begehren steif wurde. Und Haß war dabei – auch Haß. Was tat sie ihm da an? Was wollte sie denn von ihm? Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Er wollte sie wegstoßen, aber sie hielt ihn fest, zog ihn herunter, bis ihre Gesichter sich auf eine Handbreit genähert hatten, ihre Lippen waren gesprungen und angeschwollen, ihre Zunge bewegte sich gegen ihren Gaumen wie ein Amphibienwesen, das gerade aus dem Schlamm kroch. »S-Stanley«, stammelte sie und kämpfte, um die Worte durch das enge Geflecht ihrer Krankheit zu pressen. »D-du bist mein Lieblingsbruder, das bist du, und weißt du auch, warum?«
    Er wußte nicht, warum. Seine Lenden pulsierten. Er war Mitglied des Gitarren-und-Mandolinen-Clubs und des Tennisteams, er hatte eine Semesterarbeit über die Gedichte von Robert Herrick zu schreiben, und in zwei Tagen würde er wieder im Zug nach New Jersey sitzen. Irgendwo bellte ein Hund. Ihr Atem roch nach Rindfleisch mit Soße.
    »Weil du... weil du genau wie ich bist.«

3
    Psychopathia
sexualis
    Es war der zweite Tag nach ihrer Abreise aus Boston auf der New York Central Line, Massachusetts lag bereits hinter ihnen – und der halbe Staat New York auch. O’Kane studierte den Fahrplan und ließ die Namen der Bahnhöfe in seinem Kopf erklingen: Albany, Schenectady, Herkimer, Utica, Syracuse. Für ihn waren es exotische Reiseziele, jeder einzelne dieser Ortsnamen, die er seit Jahren hörte, aber niemals selbst zu sehen erwartet hätte – Städte, deren Namen so selbstverständlich auf den Lippen von Schlagzeugern und anderen weltgewandten Typen lagen, wie er sie bisweilen traf, wenn er im Schnellimbiß Bohnen mit Eiersalat in sich hineinschaufelte oder in einer Hotelbar einen Whiskey schlürfte, wobei er sich immer die allergrößte Mühe gab, nicht so ungebildet, beschränkt und provinziell zu wirken, wie er war. In Albany war er ausgestiegen, um bis zum Ende des Bahnsteigs und wieder zurück zu gehen, damit er später sagen konnte, er sei dortgewesen, aber er fand es nicht allzu aufregend – die ganze Zeit hatte er Angst, der Zug würde plötzlich aus dem Bahnhof rollen und ihn hektisch keuchend im Staub zurücklassen. Und was gab es da auch schon zu sehen? Gleise. Abfall. Eine tote Taube mit Beinen so starr wie Fensterkreuze und ein halbes Dutzend Klumpen von versteinertem menschlichem Kot.
    Schenectady, Utica und die übrigen Orte betrachtete er aus dem Fenster, aber er wollte wach und munter und bereit zum Hinausspringen sein, wenn sie Buffalo erreichten, wo

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