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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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oberen Salon gebeugt, schaukelte vor und zurück und stieß immer wieder sein Mantra hervor – ein-Schlitz –, während er gewissenhaft eine fortlaufende Linie quer durch die Mitte von über hundert Blättern des besten handgeschöpften, faserverstärkten Skizzenpapiers zeichnete, auf Vorder- und Rückseite. Er war noch in Pyjama und Morgenmantel, da er es am Morgen abgelehnt hatte, sich anzukleiden, ein Akt der Insubordination, den Kempf ihm angesichts seines hochgradig verwirrten Zustandes nachgesehen hatte. O’Kane kam gerade oben an und registrierte zunächst nur heilloses Durcheinander, aber später klärte ihn Mart über die Einzelheiten auf.
    Im selben Moment, da die Frauen auf dem Treppenabsatz auftauchten, nahm Mr. McCormick ruckartig Haltung an. Er hörte auf mit dem Geschaukel und Gemurmel und warf den Bleistift weg. »Mart!« befahl Katherine. »Öffnen Sie mir sofort diese Tür. Jane und ich wollen mit Mr. McCormick anständig mittagessen gehen.«
    Da Kempf und O’Kane nicht anwesend waren, reagierte Mart sehr langsam, in ihm brodelte ein klassischer Loyalitätskonflikt – er wußte genau, daß Mr. McCormick außer sich war, er wußte auch, was am Abend zuvor geschehen war und was es bedeutete, und er wußte mit Bestimmtheit, daß ein Öffnen der Tür nur Ärger bringen konnte. Andererseits war Mrs. McCormick die höchste Autorität im Haus: Präsidentin, Kongreß und Oberster Gerichtshof von Riven Rock in einer Person. »Ich komme«, sagte er, obwohl sie durch das Gitter deutlich sehen konnte, daß er nicht kam, daß er Ausflüchte machte, in seinen Taschen nach dem Schlüssel zu suchen vorgab, und sie wurde ungeduldig, begann an den Gitterstäben zu rütteln. So stand sie in ihren maßgeschneiderten Kleidern, mit dem kleinen Hut auf dem Kopf, die schmalen, behandschuhten Finger um die unnachgiebigen Eisenstäbe geschlungen und heftig daran rüttelnd, als wäre sie es, die eingesperrt wäre, und ihr Ehemann liefe frei herum.
    Beim Rasseln der Gittertür, beim Anblick der Finger seiner Frau und ihrer weißen Kehle, des zornigen Fältchens über ihrer Nasenwurzel, ihres stechenden Blicks und des schiefen Hütchens erwachte Mr. McCormick plötzlich zum Leben. In zwei Sätzen war er an der Tür, und obwohl sie instinktiv zurückzuckte, Mrs. Roessing aufschrie und Mart schwerfällig von seinem Stuhl aufstand, bekam er Katherine zu fassen. Mr. McCormick hielt sie an beiden Handgelenken fest, da war die lodernde, ruhelose, übernatürliche Kraft, die er besaß, seine faulenden Zähne und der starke Körpergeruch, und er zog sie an sich, es war genau wie damals mit Sam Wah, dann langte er mit einer Hand an ihre Kehle, krallte sich dort fest wie eine Stahlklammer, zwang ihren Kopf nach hinten, dabei wieherte er vor Erregung: »Ein Kuß! Ein Kuß!«
    O’Kane gelang es schließlich, seinen Griff zu brechen, doch dann war er dort an Katherines Stelle gefangen. Mr. McCormick stand da wie angewurzelt und krallte sich jetzt an seinen Handgelenken fest, während Katherine von der Tür zurückwankte, ein entsetzter Ausdruck auf dem blutleeren Gesicht. Mrs. Roessing nahm sie in die Arme, und Dr. Kempfs Stimme überschlug sich vor Aufregung: »Sehen Sie? Sehen Sie, was passiert, wenn Sie sich einmischen?«
    Darauf sahen sie alle – O’Kane und Mart, Mrs. Roessing, Kempf und sogar der ungestüm zerrende und keuchende Mr. McCormick – auf Katherine, in Erwartung einer Antwort. Sie klammerte sich an Jane Roessing, ihr Hut war verrutscht und die Finger ihres Mannes hatten rote Flecken auf ihrem kreideweißen Hals hinterlassen. »Dafür mache ich Sie verantwortlich«, sagte sie schließlich drohend und voller Trotz. Sie funkelte Kempf an, als wollte sie ihn auf der Stelle einäschern. »Sie entfremden mich der Zuneigung meines Mannes, sonst erreichen Sie gar nichts mit Ihrer, Ihrer großartigen Psychoanalyse – und das wollen die McCormicks ja wohl auch, nicht wahr? Nicht wahr?«
    Kempf bewahrte die Ruhe. Mr. McCormick ließ O’Kanes Handgelenke los und zog die Arme durch das Gitter zurück – er wirkte auf einmal ratlos und verwirrt, so als wäre er an der falschen Haltestelle aus der Straßenbahn gestiegen. Mrs. Roessing rückte Katherines schiefen Hut zurecht und murmelte ihr etwas zu, dann marschierten die beiden Frauen die Treppe hinunter, ein Rückzug der Hüte.
    »Wissen Sie, was dieser Frau fehlt?« fragte Kempf, sobald sie außer Hörweite waren. Mr. McCormick starrte mit großen Augen durch das Gitter.

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