Riven Rock
tiefe, wabernde Himmel war mit grauen Wolken vollgestopft, die sich zu einer langen Prozession übers Meer sammelten. Das Schiff legte gerade an, als der Kutscher ihnen den Verschlag öffnete, und sie eilten zu dem Tor, das auf den Pier führte, wobei sie weder auf die wimmelnde Menschenmenge achteten noch auf den Mann mit Mütze und einer mit goldenen Paspeln geschmückten Lodenjacke, der an einer Seite des Durchgangs stand.Katherine hielt nach ihrer Mutter Ausschau und sah zugleich auf Stanley, der den ganzen Vormittag steif und unansprechbar gewesen war, und sie schenkte dem Mann keinen zweiten Blick, denn sie hätte nicht im Traum gedacht, daß man Passierscheine brauchte, um den Hafenbereich zu betreten, und daß dieser Mann dort in offizieller Funktion postiert war, um diese Passierscheine zu kontrollieren.
Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Ruf, barsch und beleidigend, und da stürmte der Mann – ein Italiener, nahm sie an, dunkle Haut und schwarze Augen – den Pier entlang auf sie zu: »Hee!« schrie er, an Stanley gewandt. »Wo zum Teufel wollen Sie denn hin, Mister?«
Katherine spürte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Sie traute ihren Ohren nicht. Gleichzeitig spürte sie, wie Stanley sich anspannte – sie hatte sich bei ihm eingehakt. Er musterte den auf sie zuhastenden Wachmann mit wildem Blick, dann war der Kerl bei ihnen, etwas außer Atem, und packte Stanley am Arm.
Er konnte unmöglich wissen, was er da tat. Denn in diesem Moment wurden in Stanley sämtliche Enttäuschungen in einem aufwallenden Lavastrom nach oben gespült – Maine, seine Mutter, die Farce der Flitterwochen, sein Versagen im Bett –, und es kam zum Ausbruch. Er schüttelte den Mann ab wie ein lästiges Insekt, schleuderte ihn quer über die Planken, in einem Durcheinander von strampelnden Beinen und fuchtelnden Armen. Und als sich der Mann fluchend aufrappelte und erneut auf ihn losging, da brachte Stanley seinen Schirm ins Spiel, mit dem er auf Gesicht und Kopf seines Widersachers einprügelte, bis er nur noch Fetzen und verbogenen Draht in der Hand hatte und der benommene Wachmann, mit blutverklebtem Haar und grellroten Flecken auf dem Jackett, taumelnd den Rückzug antrat.
Sie waren beide wütend, sie ebenso wie Stanley, und sie hielt sich an seinem Arm fest, während sie sich einen Weg durch die sprachlose Menge bahnten, die beim Anblick von Stanleys grimmigem, blutleerem Gesicht und der demolierten Trophäe, die einst sein Regenschirm gewesen war, automatisch vor ihnen zurückwich. »Eine Unverschämtheit von diesem Kerl«, sagte sie. »Wenn wir zu Hause sind, werde ich gleich als erstes einen Brief an die Schiffahrtslinie schreiben – wenn die niemanden anstellen können, der den Menschen manierlich gegenübertritt, dann sollten sie besser überhaupt niemanden anstellen. Du bist doch nicht verletzt, oder?«
Er schüttelte den Kopf, die Lippen aufeinandergepreßt.
»Gut«, sagte sie, »Gott sei Dank.« Aber sie spürte, daß er zitterte und innerlich vibrierte wie eine gezupfte Saite. Sie hatten den Dampfer fast erreicht, sein gewaltiger Rumpf verstellte den halben Horizont, die Menschenmenge hinter ihnen wurde dichter. War das ihre Mutter dort oben, die sich über die Reling beugte und mit dem Taschentuch winkte? Nein, nein, es war jemand anders.
»Ich kann nicht«, sagte Stanley plötzlich und blieb abrupt stehen. »Ich – ich muß weg von hier. Sie werden die Polizei holen.«
»Sei doch nicht albern. Der Mann hat dich angegriffen – dafür gibt es Zeugen. Wenn irgendwer die Polizei zu fürchten hat, dann er.«
»Nein«, sagte er bebend, und er hatte wieder diese Miene, die tief eingesunkenen Augen, seine Lippen zuckten und legten die Zahnhälse frei, und er knirschte mit den zusammengepreßten Zähnen. »Sie-sie werden mich ins Gefängnis stecken, ich bin ruiniert. Gitterstäbe«, sagte er, »eiserne Gitterstäbe«, und damit wandte er sich in einem krampfartigen Ruck von ihr ab, kehrte ihr den Rücken und ging den Pier zurück in Richtung des Tors.
»Stanley!« rief sie, doch er war bereits außer Hörweite, vom Gewimmel verschluckt, verlorengegangen.
Erst spät am Abend sah sie ihn wieder – es war nach zehn –, und während sie ihre Mutter begrüßte, mit ihr zu Abend aß und die kleinen Geschenke auspackte, die Josephine ihr aus Paris mitgebracht hatte, verzehrte sie sich fast vor Sorge. Sie war sicher, daß Stanley in irgendwelche Schwierigkeiten geraten war (sie dachte an den alten Mann am See und
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