Riven Rock
abzuklopfen, abzuhorchen und zu untersuchen, ihn ausführlich zu laufenden Ereignissen zu befragen, ihm Bilder und geometrische Muster zur Deutung vorzulegen oder ihm den Arm um die Schultern zu schlingen und einen kleinen Spaziergang durch den Garten anzuregen. Katherine hatte Angst. Stanleys Zustand verschlimmerte sich zusehends, er entglitt ihr, und niemand schien zu ihm durchzudringen – jeder neue Arzt widersprach der Meinung seines Vorgängers, als wäre das alles nur ein komplexes medizinisches Schachspiel. Sie wollte einen Aktionsplan, eine Lösungsstrategie, einen Therapievorschlag, statt dessen wurde sie immer verwirrter. Draußen standen die Bäume wie gerupft da, der Winter rückte näher, das Licht wurde schwächer, der Wind sammelte sich, und nichts war geklärt. Sie schlief nicht mehr gut. Die Mahlzeiten wurden zur Qual. Sie konnte weder Gymnastik treiben noch lesen, nicht einmal nachdenken. In ihrer Verzweiflung kabelte sie an Nettie, in der Hoffnung auf Einsicht, einen Funken Weisheit, ein wenig Sympathie, irgend etwas. Die Antwort war schroff: WIE MAN SICH BETTET, SO LIEGT MAN.
Erst der letzte Mediziner, ein löwenmähniger Hausarzt, dem weiße Härchen aus Nase und Ohren wuchsen, konnte Stanley als einziger ansprechen – anfangs jedenfalls. Dr. Putnam war von einer von Josephines Freundinnen empfohlen worden, und obwohl er Charcot nicht von Mesmer und Freud nicht von Bloch unterscheiden konnte, hatte er doch in seinen siebenundvierzig Jahren medizinischer Erfahrung so ziemlich alles gesehen, darunter auch Demenz in all ihren Ausprägungen und die geheime Hysterie, die Frauen dazu brachte, sich in Schränken zu erhängen. Dafür, daß er in den Siebzigern war, kam er recht frohgemut die Eingangstreppe herauf, und noch ehe er Hut und Handschuhe abgelegt hatte, forderte er Stanley zu einer Partie Dame heraus. Die beiden spielten wortlos den Nachmittag hindurch bis in den Abend hinein, und am nächsten Morgen erschien der Arzt um acht Uhr mit zwei Metallstangen und mehreren Hufeisen unter dem Arm. Den ganzen Vormittag ertönte das helle Klirren, während er und Stanley gut gezielt ihre Eisen warfen, und das einzige andere Geräusch war das leise Gemurmel ihrer Stimmen beim Zusammenrechnen der Punkte.
Am nächsten Tag erschien der alte Doktor erst kurz vor drei Uhr nachmittags – er mußte bei anderen Patienten Hausbesuche abstatten, erklärte er, und Mrs. Trusock habe ihn mit ihrer Gürtelrose aufgehalten –, aber Stanley war trotz des kalten Windes schon stundenlang draußen und schleuderte die Hufeisen auf die unerbittliche Stange, wieder und wieder. Gemeinsam spielten sie bis zur Dunkelheit, dann bat der Doktor Katherine in den Salon, wo er sich am Feuer ein wenig aufwärmte, ehe er nach Hause zu seiner Frau zurückkehrte. Als sie hereinkam, saßen die beiden auf Stühlen dicht beieinander vor dem Kamin, ihre Knie berührten sich fast. »Stanley«, sagte der Doktor, als Katherine es sich ihnen gegenüber in einem Sessel bequem gemacht hatte, »Sie sind ein ziemlich gewitzter Damespieler, und ein scharfes Auge beim Eisenwerfen haben Sie auch. Also, mein Rat an Sie ist folgender: Sie sollten sich ein Hobby suchen, dem Sie nachgehen können – so etwas wirkt Wunder für die Nerven. Sagen Sie, was würde Ihnen denn gefallen, als Hobby, meine ich?«
Stanley gab keine Antwort.
»Nichts?« Der alte Mann legte den Kopf schief, als lauschte er auf eine Reaktion aus dem Nebenzimmer. »Na gut«, sagte er, schlürfte einen Schluck Tee und warf Katherine einen raschen Blick zu, »dann verschreibe ich Ihnen Lektionen in Deutsch und im Fechten. Da können Sie sich so richtig drin verbeißen. Und praktisch ist es obendrein. Nichts ist heutzutage nützlicher als Deutsch zu lernen, und der Fechtsport, nun, da lernen Sie gleich ein wenig Disziplin und Strenge, und genau das brauchen Sie, um sich von Ihren Problemen abzulenken. Geschäftliche Probleme, was? Na, hab ich mir doch gleich gedacht.« Er stellte die Teetasse mit ausgesuchter Präzision ab und erhob sich. »Ich komme in etwa einer Woche wieder vorbei und sehe nach Ihnen – da bringe ich dann meinen Säbel mit... Also«, sagte er dann, schmatzte und sah sich im Zimmer um, als hätte er soeben auf einen Streich alle Leprakranken Kalkuttas geheilt, »was kann ich sagen als auf Wiedersehen!«
Während der nächsten Tage war Stanley sehr still. Zweimal traf ihn Katherine im Garten an, wo er nachdenklich vor dem improvisierten Hufeisenspiel stand, aber
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