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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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daran, was wohl passiert wäre, wenn er nicht hätte schwimmen können) – Schwierigkeiten, aus denen ihm vielleicht keine noch so hohe Summe mehr heraushelfen würde. Am Pier war er rasend gewesen. Außer Kontrolle. Bereit, auf jeden einzuschlagen, der sich ihm in den Weg stellte, und sei es aus Versehen und Unwissenheit. Und während ihre Mutter von Prangins und Madame Fleury und Katherines Hochzeit plapperte, die dort immer noch Stadtgespräch war, mußte Katherine an die Polizei denken. Sollte sie sie anrufen? Aber was konnte sie sagen – daß ihr der Mann weggelaufen war? Daß Stanley Robert McCormick mit all seinem Savoir-faire, seinem Talent und Vermögen nicht imstande war, sich in der Öffentlichkeit frei zu bewegen? Daß er verrückt und gestört war und an sexual-hypochondrischer Neurasthenie litt?
    Sie brach zusammen, als ihre Mutter gerade eine Geschichte über Emily Esterbrook erzählte, aus der Familie Worcester-Esterbrook, die auf der Überfahrt von Europa die Luxuskabine ihr gegenüber bewohnt hatte und die den Part der zweiten Violine von Beethovens Harfenquartett pfeifen konnte, und zwar bis zum Ende, ohne eine Note auszulassen. »Emilys Tochter ist mit einem wirklich reizenden Mann verlobt«, sagte ihre Mutter, als Katherine auf einmal zu schluchzen begann, und sie konnte nicht mehr aufhören, nicht einmal als Stanley endlich die Treppen heraufpolterte.
    »Stanley!« rief Josephine aus und erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Wie schön, Sie wiederzusehen«, doch dann stockte sie. Stanley stand mitten im Salon, aber auf seinem Gesicht lag ein höchst seltsamer Ausdruck, so als würde er das Zimmer – oder die Menschen darin – nicht wiedererkennen. Er hatte einen Öl- oder Fettfleck auf der Stirn, und sein rechtes Auge war zugeschwollen und verfärbt, als würde ein kleiner Teil von ihm zu verwesen beginnen. Sein Jackett hatte ebenfalls gelitten, der linke Ärmel hing nur noch an dünnen Fäden, der rechte war ganz abgerissen. Etwas, das wie Blut aussah, bildete eine Kruste am Ellenbogen des freigelegten Hemdsärmels.
    »Aber Stanley, was ist nur passiert?« fragte Josephine beunruhigt und ging durch das Zimmer auf ihn zu, um seine Hand zu nehmen, und sie dachte an ihren eigenen Sohn, den verstorbenen Sohn, voll mütterlicher Sympathie und Sorge, und Katherine liebte sie dafür von Herzen. Was Stanley betraf – ihre Reaktion auf sein Erscheinen –, so war sie wie gelähmt, völlig gelähmt. Sie konnte weder Was? noch Wie? sagen oder auch nur den Mund öffnen. »Kommen Sie«, gurrte Josephine, »lassen Sie es mich mal sehen. Hier, etwas mehr ins Licht.«
    Als ihre Mutter ihn berührte, schien Stanley sich anfangs zu fügen, er senkte den Kopf und entspannte die Schultern, doch dann entriß er ihr plötzlich seine Hand, als hätte sie hineingebissen. »Dummes altes Weib!« brüllte er, und jede Sehne seines Halses trat angespannt hervor. »Du dummes lästiges altes Weib, faß mich bloß nicht an – wag es ja nicht, mich anzufassen!«
    »Stanley!« stieß Katherine hervor, auf einmal fand sie ihre Stimme wieder und wurde wütend, als sie sah, wie das Gesicht ihrer Mutter immer länger wurde – dieser gütigsten Frau der Welt, die es stets gut meinte –, sie wurde bitter und böse und war bereit, Schluß zu machen mit... diesem Wahnsinn. »Stanley, du entschuldigst dich auf der Stelle!«
    Jetzt aber wandte er sich gegen sie, er war außer Kontrolle, außer jeder Kontrolle, auch der eigenen, seine Miene ein flatterndes Banner der Wut. »Halt’s Maul, du Schlampe!«
    Am Morgen, noch ehe die Welt sich rührte, fuhren sie in einer privaten Kutsche nach Brookline. Stanley saß so tief in die Kissen gesunken, daß man ihn von der Straße aus kaum sehen konnte, er streckte die langen Beine weit von sich, Kopf und Schultern befanden sich auf der Höhe von Katherines Hinterteil. Beide Backenknochen waren schlimm angeschwollen – er hatte Schläge eingesteckt, böse Schläge, das sah sie jetzt –, was ihm eine schlitzäugige Undurchsichtigkeit verlieh, so als hätte er sich im Schlaf in einen Tatarenhäuptling verwandelt. Er sagte nichts. Kein Wort. Keine Erklärung, keine Entschuldigung. Sobald sie zu Hause waren, brachte sie ihn zu Bett, und er schlief den ganzen Tag und die Nacht bis zum nächsten Morgen.
    Dann folgte die Prozession der Psychiater, Neurologen und Pathologen: eine endlose Parade von Medizinern marschierte durch den Salon des Hauses in Brookline, um ihren verfallenden Mann

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