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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Land verstreut waren. Stanley aber hatte immer noch Chancen. Wirklich. Massenhaft Chancen. Er war noch jung und hatte genügend Zeit, um etwas mit seinem Leben anzufangen und in der Welt voranzukommen – wenn er nur wieder gesund wurde. Das war der erste Schritt. Darum ging es, und kein Anwalt, kein Arzt und kein wortklauberischer McCormick hatte sich da einzumischen.
    Katherine saß immer noch reglos da. Die Sonne ergoß sich auf die Fenster, der Himmel gähnte, es herrschte vollkommene Stille. Ihre Mutter stand jetzt auf dem Fahrweg, überall Federn, genug für eine ganze Voliere, und musterte sie mit dem klarsichtigen, analytischen Blick, den Katherine aus ihrer Kindheit kannte, wenn er eine Mandelentzündung oder einen verdorbenen Magen diagnostizierte. Der Chauffeur, hinter dem Lenkrad beweglich und konzentriert, schien im Stehen verstorben zu sein, so erstarrt stand er da, um ihr vom Trittbrett des Packard zu helfen. »Katherine?« fragte Josephine. »Fehlt dir irgend etwas?«
    »Mir geht es gut«, hörte sie sich selbst sagen.
    »Wenn dir nämlich etwas fehlt«, fuhr Josephine fort, »dann müssen wir das hier nicht unbedingt tun, nicht wenn du noch mitgenommen und erschöpft von der Reise bist...«
    Dann war sie auf den Beinen, erhob sich hoch über sie und trat einen Schritt vor, um aus dem Wagen zu steigen, während die Fenster im Licht zerbarsten und die klauenartige Hand des Chauffeurs plötzlich am Rand ihres Gesichtskreises auftauchte, um ihr Halt zu bieten, und sie betrachtete ihren festgeschnürten Fuß, der über der Terra incognita der privaten Irrenanstalt ihres Mannes schwebte. »Ich sagte doch, mir geht es gut«, sagte sie, und da war er wieder, dieser Anflug von Schärfe und Gereiztheit, »– oder nicht?«
    Ihre Mutter antwortete darauf nicht, preßte die Lippen zusammen und schob den Unterkiefer in einer perfekten Imitation von Verstimmung vor, war aber zu sehr angetan von Kalifornien und ihrem Heilwasserbad, als daß sie wirklichen Groll hegte, und auch zu besorgt angesichts der Kompliziertheit der »Sache mit Stanley«, wie sie es mittlerweile nannte, um weiter nachzubohren. Gefolgt vom Chauffeur, gingen die beiden Frauen mit so steifen Schritten, als wären sie zwei Fremde, die ihre Sitze in der Oper suchten, schweigend die breiten Steinblöcke der Vordertreppe hinauf und läuteten. O’Kane erschien an der Tür, noch bevor das hallende Echo der Glocke in einer Serie dumpfer Schwingungen verklungen war, die in den riesigen Tontöpfen zu beiden Seiten des Eingangs zu versickern schienen. Er wirkte verwirrt. Als hätte er jemand völlig anderen erwartet. Oder überhaupt niemanden. »Guten Abend«, gelang es ihm hervorzubringen. Er hielt ihnen die Tür auf und gab sich die größte Mühe, das Gesicht zu einem Lächeln zu formen.
    »Guten Abend«, entgegnete Katherine, aber schroff, wie um es hinter sich zu bringen, und sie erwiderte sein Lächeln nicht – sie war zu angespannt zum Lächeln, zu traurig und wütend und pessimistisch, und O’Kanes Verlegenheit reizte sie zusätzlich. Was sollte das heißen? Daß man sie nicht erwartet hatte? Aber das war doch absurd – jemand hatte ja den Wagen geschickt, und beim Frühstück hatte ihre Schwiegermutter ad nauseam von dem zauberhaften Riven Rock geschwärmt und wie sehr sich alle freuten, daß sie es nun selbst sehen und gutheißen würde. Oder lag es an Hamilton? Würde er mit den Augen rollen und ihr erzählen, Stanleys Zustand habe sich verschlechtert und sie könne ihn nicht sehen, den eigenen Ehemann, in seinem eigenen Haus, nachdem sie sechs alptraumerfüllte Monate lang einen schrecklichen Tag nach dem anderen darauf gewartet hatte und den ganzen langen knochenzerrüttenden, stirnhöhlenzermarternden, kopfwehpochenden Weg hierher gereist war?
    »Oh, Mr. O’Kane«, schrillte ihre Mutter hinter ihr, »wie nett, Sie wiederzusehen – und wie gefällt Ihnen Kalifornien? Vermissen Sie Ihre Gattin sehr? Hm? Ja?«
    Katherine hätte sie am liebsten erdrosselt. Sie wollte herumwirbeln und schreien: »Halt den Mund, Mutter, halt doch den Mund!« Und noch ehe sie feststellen konnte, welche Verbrechen wider den guten Geschmack Stanleys eigene Mutter, diese Kleinstadtspießerin, bei der Möblierung begangen hatte, ging sie auf O’Kane los. »Wo ist mein Mann?« verlangte sie zu wissen, stürmte in die Halle mit der vagen Idee, wahllos alle Türen zu öffnen.
    O’Kane knallte dem Chauffeur die Vordertür ins Gesicht und sprintete ihr hinterher,

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