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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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rosenüberwucherte Dornröschenburg, Stanleys Haus, gab sie sich Mühe, gar nichts zu empfinden.
    Dann spotzte der Motor und erstarb mit einem letzten tuberkulösen Keuchen, und die Stille überflutete sie wie ein Segen. Josephine befreite sich als erste von ihrem Schleier, den sie keck an dem hoch aufragenden Steilhang ihres Hutes befestigt hatte. Als sie sich aus dem Wagen beugte, um den Staub auszuschütteln und in derselben Bewegung die Decke von den Beinen zu schieben, bemerkte sie trocken, das Haus sei wohl etwas protzig, nicht wahr?
    Das war es. Allerdings. Was sonst war von den McCormicks zu erwarten? Katherine löste den eigenen Schleier und strich sich das Haar wieder glatt, während der kleine Chauffeur – Roscoe Soundso – herbeiwieselte, um ihr herauszuhelfen. Doch sie war noch nicht bereit – sie wollte sich Zeit lassen –, und so blieb sie einen Moment sitzen, starrte zu den die Sonne reflektierenden Fenstern hinauf und fragte sich, ob Stanley wohl hinter einem davon stand, ob er vielleicht gerade zu ihr hinaussah. Der Gedanke machte sie unsicher, und ihre Hände fuhren unwillkürlich zu ihrem Haar zurück.
    Die Geschichte dieses Hauses, soweit sie sie kannte, war wohl das Traurigste, was man sich ausdenken konnte. Ihre Schwiegermutter hatte es Ende der neunziger Jahre als Zufluchtsort für Mary Virginia bauen lassen, ein Privatsanatorium für nur eine Patientin – aus den Augen, aus dem Sinn –, und sie hätten keinen von der Gesellschaft Chicagos weiter entfernten Ort finden können, außer man wäre nach Alaska gezogen oder hätte die Tochter auf ein Schiff zu den Salomon-Inseln verfrachtet. Dort war Mary Virginia allein mit ihrer Ärztin, den Krankenschwestern, den Spülmädchen, Köchinnen, Waschfrauen und der Horde von sizilianischen Gärtnern, die den verschlafenen Orangenhain mit dem billigen Schindelhaus mittendrin in ein anständiges Anwesen mit anständigem Garten verwandelt hatten, wie es auch im Osten, in Grosse Pointe oder in Scarsdale, nicht aufgefallen wäre. Nettie hatte die Villa von dem Bostoner Architekturbüro Shepley, Rutan & Coolidge entwerfen lassen – zweistöckig, im spanischen Missionsstil mit runden Bögen und einem kleinen Türmchen – und Dr. Francisco Franceschi, einen berühmten Botaniker, für die Gartengestaltung herangezogen, 150 Lorbeerbäumchen aus Japan importiert, einen Neun-Loch-Golfplatz angelegt und so weiter. Und das war traurig. Weil die McCormicks glaubten, sie könnten, wenn sie nur genug Geld in dieses Anwesen pumpten, ihr Gewissen beruhigen, leichter atmen und das traurige Kapitel mit der verrückten Tochter und Schwester einfach zuschlagen.
    Aber es wurde noch viel trauriger, denn damals war auch Stanley hier gewesen – gutgelaunt, dynamisch und witzig, ein einundzwanzigjähriger Princeton-Student mit süßem scheuem Lächeln und einem Blick, der einen nicht mehr losließ, bis man glaubte, man sei der einzige Mensch auf der Welt. Er war mit seiner Mutter gekommen, um ihr Unterstützung und Hilfe beim Organisieren zu bieten. Aber einfach nur zu helfen war für Stanley nicht genug – er war Perfektionist, ein fanatischer Freund des Details. Er sprach täglich mit Dr. Franceschi, befragte die Maurer und die Gärtner, saß mit dem jungen Architekten, den Shepley, Rutan & Coolidge zur Bauüberwachung angestellt hatte, über den Plänen und verschob hier eine Wand, fügte dort eine Nische oder einen Innenhof hinzu, und Fenster, immer mehr Fenster. Er war es, der vorschlug, die Räume der Patientin vom Erdgeschoß in den ersten Stock zu verlegen – wegen der Aussicht –, und er hatte die Zimmerflucht selbst entworfen, bis hin zur Form der Fenster und Türrahmen und den Fliesen im Bad.
    Und das ging ihr jetzt auf, die Ironie der Sache, und das war das Traurigste: der arme Stanley hatte sein eigenes Gefängnis entworfen, ohne es zu ahnen. Niemand hatte es geahnt. Er war ein vielversprechendes Talent gewesen – Mitglied von einem halben Dutzend Clubs auf dem Campus, Redakteur der College-Zeitung, Vorsitzender des Casino-Komitees, Tennisas und hochbegabter Student, Maler, Sportler und Poet, der den Reichtum der McCormicks zur Verfügung und hervorragende Aussichten vor sich hatte –, und als Mary Virginia nach Arkansas verlegt wurde, um näher bei ihrer neuen Ärztin zu sein, dachte niemand, daß aus Riven Rock irgend etwas anderes werden könnte als ein heiterer Ort, eine Winterresidenz, eine von dem halben Dutzend McCormick-Villen, die im ganzen

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