Riven Rock
wohl die Versuchungen, die einen jungen Mann von gutem Charakter in einer Stadt wie dieser tagtäglich bedrängen, einem Ort, der in meinen Augen schon immer voll war von Ausländern übelsten Leumunds, mit all ihren obszönen und frevelhaften Ansichten und ihrer verhöhnenden Einstellung gegenüber einem moralisch einwandfreien Lebenswandel, und glaube keine Minute lang, daß ich nicht gesehen habe, wie diese schweinsäugigen Franzosen uns hinter unserem Rücken verlachen... Und deine Gesundheit? Hast du daran gedacht? Wer soll dich denn pflegen, wenn das ägyptische Fieber dich wieder anfällt – du bist noch geschwächt davon, das weißt du, deine Gesichtsfarbe wirkt immer noch ziemlich gespenstisch. Na? Was sagst du dazu, Stanley?«
Er hatte darauf keine Antwort, auch wenn er seine Gesichtsfarbe ganz gut fand, etwas bleich und bläßlich vielleicht, aber nicht ungewöhnlich. Er war auf und ab gegangen, doch jetzt blieb er vor dem Spiegel des Salons stehen und sah ein Gesicht, das er kaum wiedererkannte, glotzende Augen und eingefallene Wangen, eine Hagerkeit, die ihn erschreckte – zugegeben, er sollte wohl tatsächlich etwas von dem Gewicht zurückbekommen, das er in einem Typhusanfall eingebüßt hatte, aber wo konnte er das besser als in der kulinarischen Hauptstadt der Welt?
»Und dein Nervenleiden – was ist damit?« beharrte seine Mutter. »Nein, ich werde dich nicht hier zurücklassen, niemals – ich würde die ganze Rückfahrt über vor Angst halb sterben. Und das würdest du doch nicht wollen, oder?«
Nein, das würde Stanley nicht wollen, und er wußte durchaus, wie schwer ihr Herzleiden war und wie sehr sie ihn brauchte, wie es sie zerreißen würde, auf einmal nicht mehr jeden Tag mit ihm zusammenzusein, geschweige denn zwei Monate oder länger, vor allem ausgerechnet jetzt, da Harold und Anita aus dem Haus waren und sie ganz auf sich selbst gestellt in das große leere Haus zurückkehren mußte, in dem sie mit den Dienern allein sein würde, aber jetzt wandte er sich zum erstenmal in seinem Leben gegen sie. Zwei Wochen lang ließ er ihr keine Ruhe, nicht eine Minute lang, er beschwor und bestürmte sie, trommelte sich auf die Brust, schmollte und nörgelte und knallte die Türen, bis auch die Dienstboten nervös wurden, und schließlich ließ sie sich, wider bessere Einsicht, erweichen. Sie besorgte ihm eine höchst angemessene Zimmerflucht bei einer Mrs. Adela van Pele, einer frommen Presbyterianerin fortgeschrittenen Alters aus Muncie/ Indiana, die ein untadliges Etablissement in Buttes-Chaumont führte, während ihr Ehemann, der renommierte Wanderprediger Mies van Pele, auf Borneo am Fluß Rajang die Kopfjäger bekehrte, und sie sprach ausführlich mit Monsieur Julien, der ihr versicherte, ihr Sohn werde nur die allerschicklichsten Sujets zeichnen – also Stilleben und Landschaften, im Gegensatz zu allem, was auch nur entfernt körperlich wäre. Solcherart zufriedengestellt, weinte Nettie dennoch und raufte sich die Haare, trat aber die Heimfahrt an – allein. Und an dem Abend, als seine Mutter abreiste – auf dem Rückweg von ihrer Verabschiedung, um genau zu sein –, traf Stanley, dem das Blut in den Ohren pochte, auf Mireille Sancerre.
Vielmehr traf sie auf ihn. Er ging gerade eine ihm fremde Straße in der Nähe des Gare du Nord entlang, überlegte, was er als erstes tun sollte, und achtete kein bißchen auf seine Umgebung. Sollte er im nächstbesten Restaurant, das ihm gefiel, essen gehen, ohne daß jemand seine Wahl in Frage stellte oder herabsetzte? Oder im Café bei einem Glas Wein die Passanten betrachten? Er konnte auch in ein Varieté gehen, zu einer dieser frivolen Tanzveranstaltungen, von denen er auf dem College soviel gehört hatte, oder sogar, falls er den Schneid dazu aufbrachte, einen kleinen Laden suchen und eines dieser Kartenspiele mit den Bildern auf der Rückseite kaufen und dann verstohlen in sein Zimmer zurückschleichen, um sie dort in Ruhe zu studieren, bevor Mrs. van Pele ihn wieder in ihre Fänge bekam und bis zum Schlafengehen Choräle mit ihm singen wollte.
Natürlich war die Versuchung in ihm ebenso stark wie der Widerstand gegen seine unreinen Begierden, er dachte gerade an die fromme Mrs. van Pele und daran, wie nett ihre Gesellschaft und wie großherzig es von ihr war, seine Stimme zu loben, als Mireille Sancerre ihn anrempelte. Doch das war kein gewöhnlicher Rempler, jene zufällige Berührung, wie sie einem im Opernfoyer während der Pause, in
Weitere Kostenlose Bücher