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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zu wachsen an, bis er in seinen Augen zu einem schrecklichen, unbeherrschbaren Ding wurde, die Bohnenstange aus dem Märchen, die mitten durchs Dach wuchs und hinauf in die Weiten des Himmels, und er nahm die Hand schnell wieder weg. Oh, was hatte er getan, was hatte er nur getan? Er war verdorben. Verworfen. Verflucht zu Hölle und ewiger Verdammnis. Er wünschte, er wäre wieder auf dem College, in der Sicherheit seines Zimmers, mit seinen Büchern und Footballtransparenten und seinem Ledergeschirr – das er sich selbst gebastelt hatte, als er die Sünde der Selbstbefleckung entdeckte. Er war damals erst im zweiten Semester, aber so hatte alles angefangen – und dies war nun das Ende, das ganze Leben wurde schmutziger und immer schmutziger und jeder Mensch zum Tier, das sich darin suhlte. Als er das erstemal beim Erwachen das feuchte Zeugnis seiner Verderbtheit auf dem Bettlaken vorgefunden hatte, war er sofort in die nächstbeste Sattlerei gegangen und hatte dort ein Zaumzeug und diverse Werkzeuge zur Lederbearbeitung erstanden. Er hatte alle Vorlesungen ausgelassen und war mit Vehemenz ans Werk gegangen, hatte sich durch Versuch und Irrtum gearbeitet und jedes Quentchen seines perfektionistischen Eifers hineingelegt, bis er, zur Abendessenszeit, fertig war: zwei Handfesseln und zwei für die Fußgelenke, verbunden durch die verknoteten Lederbänder der gekürzten Zügel, und er trug es von nun an jede Nacht, dieses Geschirr, damit er sich nie wieder berühren würde – und konnte –, während er schlief und träumte oder in der benommenen, sinnlichen Vorhölle der Dämmerung wach lag. Und wie sehr er doch wünschte, er hätte sein Geschirr auch jetzt dabei...
    Aber es war zu spät. Natürlich war es das. Das Schlimmste war passiert, er hatte seinen bestialischen Instinkten nachgegeben und eine Frau mißbraucht, er hatte Mireille Sancerre entehrt, und es gab nur eine einzige Möglichkeit: er mußte sie heiraten. Um ihre Seele zu retten und seine eigene. Ja, natürlich. Die einzige Möglichkeit. Diese Eingebung verlieh ihm neue Kraft, und mit einem Satz sprang er aus dem Bett und tastete nach seinen Sachen – wie spät war es eigentlich? Irgendwie fand er weder seine Uhr noch die goldene Krawattennadel, die seine Mutter ihm zum Examen geschenkt hatte, mit den drei blitzenden Saphiren, von denen sie immer sagte, nur seine blauen Augen seien noch schöner... und als er die Hand in Hose und Jackett steckte und seine Taschen abklopfte, da stellte er staunend fest, so wie jemand, der von einem Eisenbahnunglück davonwankt, daß auch die Brieftasche verschwunden war. Aber natürlich, er begriff augenblicklich, daß Mireille Sancerre sich seine Barschaft angeeignet hatte, als Anzahlung auf die Hypothek ihrer Entehrung, und sie hatte auch jedes Recht darauf, jedes Recht auf alles, was er besaß... Immerhin war sie ja nun die eine, die einzige: sie würde seine Frau werden.
    Stanley blieb den ganzen schleppenden Vormittag und den ganzen hinfälligen Nachmittag hindurch in ihrem Zimmer, er hatte Angst, sich auf der Straße zu zeigen, die Schande lauerte in seinem verderbten Blick und auf seinem sinnlichen Mund, und obwohl sein Durst groß genug war, daß er für einen einzigen Tropfen Wasser meilenweit gekrochen wäre, und der Hunger ihn so zerfraß, daß er sich fühlte wie ein irrsinniges heulendes Raubtier im Dschungel, erhob er sich nicht von diesem Bett. Irgendwann am späten Nachmittag war er plötzlich wieder in der Schublade des Wäscheschranks am Tag vor dem Begräbnis seines Vaters, und dort beschimpfte ihn eine scharfe, krächzende Stimme, eine körperlose Stimme, die ihm das Fleisch von den Knochen schälte, und er hätte sich nicht rühren können, selbst wenn ihm danach gewesen wäre. Die Sonne zog vorbei, wurde blasser und erstarb. Endlich, als es dunkel war, ganz dunkel, kehrte er zurück auf das Bett in Mireille Sancerres billigem Zimmer, das nach verwelktem Gemüse und verwesendem Fleisch roch, und da sah er seine Chance. Im nächsten Moment war er auf den Beinen und rannte auf die Tür zu, die er den ganzen Tag lang angestarrt hatte, eine Tür, die auf ein düsteres, nach Schweiß stinkendes Treppenhaus führte, und ehe er sich’s versah, polterte er die Stufen hinab, ohne die verdutzten Gesichter auf den Treppenabsätzen und die Rufe in seinem Rücken zu beachten, die Stufen hinab und auf die Straße hinaus. Dort strauchelte er und fiel hin, verspürte ein scharfes Brennen auf der linken Handfläche

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